»Wir sind viele«, oder: Die Blogosphäre gibt es nicht | Werkstattnotiz XVI

Kategorien, Etiketten, Schlagworte – sie sind notwendig, wir gebrauchen sie alltäglich und doch verstellen sie oftmals die Sicht auf die tatsächlichen Sachverhalte. Jeder weiß, daß es die Politik nicht gibt, wenn er auf bestimmte politische Mißstände hinweist. Jeder weiß, daß Politik von unzähligen unterschiedlichen Akteuren bestimmt wird und dennoch werden pauschale Kategorien genutzt.

Und jeder weiß, daß es die Männer [bzw. den typischen Mann] und die Frauen [bzw. die typische Frau] nicht gibt1. Die Liste mit naturgemäß schiefen Pauschalkategorien, die dennoch ständig gebraucht werden, ließe sich vermutlich fast endlos fortschreiben2. Aber ich behaupte, daß wenigstens den aufgeklärteren Zeitgenossen bewußt ist, daß es sich bei all diesen Etiketten um eine unzulässige Einordnung in Schubladen handelt und die jeweiligen Angehörigen der Gruppen meist genausoviel Unterschiede wie Gemeinsamkeiten aufweisen.

Das Web 2.0 gibt es nicht?!

Wieso ich meinen Artikel mit dieser allgemeinen Betrachtung von Pauschalurteilen beginne? Weil ich die These aufstellen möchte, daß es sich bei einigen Begriffen nicht so wie oben skizziert verhält. Denn wenn beispielsweise von Internet, Web 2.0 oder der Blogosphäre die Rede ist, dann hört man nur selten im Anschluß die differenzierende Einschränkung, daß es sich hierbei um vereinfachende Kategorien handele.

Sind Blogger das evolutionäre Produkt des Computernerds und der tagebuchführenden Hausfrau? Vorurteil oder zutreffende Beschreibung?

Kurz gesagt: fast immer, wenn von den Blogs zu lesen ist, dann steht gleichzeitig die Behauptung im Raum, es handele sich bei dieser ominösen Gemeinschaft der Blogger um eine weitestgehende kohärente soziale Subkultur. Eine Subkultur, die man sich als Symbiose aus einerseits den Compterfreaks, Nerds und Usenet-Leuten, andererseits tagebuchführenden Hausfrauen vorzustellen habe. Und die Angehörigen dieses Milieus weisen eben spezifische Eigenschaften auf, so eine unausgesprochene Unterstellung. 

Was hat aber diese These mit der Frage zu tun, weshalb die Blogosphäre offenbar kaum kalkulierbare Reaktionsmuster aufweist? Denn ich hatte ja im letzten Beitrag festgestellt, daß sich die Mobilisierung für (externe) Themen mit gewissen Schwierigkeiten und Empfindlichkeiten innerhalb der Blogcommunity auseinandersetzen muß. Anders formuliert: Wer innerhalb der Blogosphäre ein bestimmtes, evtl. sogar ein soziales Thema auf die Agenda setzen will, der muß sich bewußt sein, daß er es mit einem höchst launischen Medium zu tun hat. Kein Wunder, denn – so meine weiterführende These – die Blogs gibt es nicht. Wir sind viele! Es gibt nur einzelne, im Wortsinn: individuelle Blogger, die unterschiedliche Motive, Herangehensweisen und Vernetzungsstrukturen aufweisen.

Blogger sind Individuen – Die Blogosphäre ist bunt!

Das ist – zugegeben – ein pure Selbstverständlichkeit. Aber: sowohl in den konventionellen Medien und überwiegend auch in der Blogosphäre selbst,3 wird meist vergessen, daß hier keine kohärente gesellschaftliche Gruppe bezeichnet ist. Und deshalb wird auch meist übersehen, daß es eben auch kein verallgemeinerbares Eigenschaftsprofil geben kann. Die Blogosphäre ist bunt!, das könnte und sollte man sich immer wieder vor Augen halten. Das ist zugleich eines ihrer Gütesiegel, wie auch Ursache dafür, daß ihre Reaktionen mitunter unberechenbar ausfallen.

Deshalb zurück zur ursprünglichen Frage: Weshalb ist die Mobilisierung für Aktionen mit sozialer und/oder ökologischer Ausrichtung so schwierig? Ich habe mir deshalb die zwei zurückliegenden Blogaktionen auf diesem Gebiet angesehen. Zuerst die "Free Burma"-Blogaktion, dann den gestern stattfindenen "Blog Action Day" zum Thema Umwelt.4

Die Unterschiede zwischen den beiden Aktionen liegen klar auf der Hand: die "Free Burma"-Aktion entstand als spontane Solidaritätsaktion und -reaktion auf die Entwicklungn in Burma/Myanmar und wurde innerhalb eines Zeitfensters von 5 Tagen organisiert. D.h. auch, daß eine zentrale, professionelle Koordination überhaupt nicht denkbar war und die Aktion notwendigerweise ein "Schnellschuß" war. Die Mobilisierung mußte sich binnen weniger Tage (ein Wochenende war auch noch mit dabei) vollziehen.

Der "Blog Action Day" hatte ca. 2 1/2 Monate Vorbereitungszeit. Thematischer Fokus lag auf umweltpolitischen Themen (Schlagwort: Environment, "climate change" etc.) Idee und Konzept lagen in der Hand von mindestens drei sog. Majorbloggern aus Australien, die teilweise mit einem Technoratiwert von über 4.000 in der weltweiten Spitzengruppe rangieren.5Sehr ungleiche Ausgangsbedingungen also – ich habe mir die Reichweite der Aktionen nun anhand einer kurzen Technorati- und Blogpulseanalyse durchgesehen. 

 Reichweite_Blogaktionen_01b.jpg

[Anklicken der Graphik öffnet eine größere Version.]


Es wird sichtbar, daß sich erstaunlicherweise an der "Free Burma"-Aktion trotz der ungünstigeren Startbedingungen etwas mehr Blogger beteiligt haben. Technorati weist aktuell 14.400 Posts für "Free Burma", 12.100 für den "BlogActionDay" aus.6 Der kursorische Ländervergleich zeigt: wie zu erwarten, waren englischsprachige Posts bei der Burma-Aktion etwas schwächer vertreten (4.450:6.670), allerdings gab es in der deutschsprachigen Szene eine deutliche Mehrbeteiligung bei Burma (2.900:630).7  

Sicher: die "Free Burma"-Aktion ging von Italien und Deutschland aus. Das wird auch in den beiden Werten deutlich. Für Spanien und Fankreich ergeben sich zwischen diesen beiden Aktionen nur marginale Unterschiede. Erstaunlich ist, daß es dieser von "langer Hand" vorbereitenden Aktion nicht gelang, eine wesentliche höhere Wirkung zu erzielen. Am Thema – Klima- und Umweltfragen sind alles andere als peripher in der öffentlichen Debatte – kann es m.E. nicht gelegen haben. Wer hat hier Vermutungen?

Blogger haben das Autonomieprinzip verinnerlicht: ohne eine thematische Identifikation ist kaum eine Mobilisierung machbar.

Als erstes Zwischenfazit bleibt festzuhalten: das Bloggerselbstverständnis (so meine Beobachtung) ist von einem Bewußtsein der Selbstbestimmung geprägt. D.h.: die Möglichkeit, die Themen des eigenen Blogs selbstständig und ohne äußere Einflußnahme zu wählen, ist ein hoher Wert. Um von diesem "Konzept" der Selbststeuerung und Autonomie abzurücken, sind weitere Faktoren erforderlich. Es muß vermutlich entweder eine thematische Identifikation mit der Aktion vorliegen8 oder es muß ein Solidarisierungseffekt hervorgerufen werden.9 Es ist also offensichtlich: Blogger sind keine Lemminge. ;-)

Zweite Erkenntnis: die internationale Blogosphäre weist einen sehr geringen Vernetzungsgrad auf. Die "Free Burma"-Aktion erreichte nur schwer englischsprachige Blogger10, umgekehrt fand der internationale "Blog Action Day" nur wenig Resonanz in Deutschland. 

Wäre es also nicht angemessener, die Redeweise von der Blogosphäre aufzugeben oder zu revidieren? Denn wird nicht immer deutlicher, daß es nicht eine, sondern viele Blogosphären gibt?

 

Weitere Gedanken zur selben Frage:

 



 

 

  1. Und daß die verschiedenen Geschlechter nicht von unterschiedlichen Planeten – Mars vs. Venus – importiert sind, sollte sich insofern genauso verstehen. []
  2. Die Jugend (von heute), die Schriftsteller, die Medien, die Industrie… []
  3. Und auch hier in der Wissenswerkstatt ist/war vereinzelt von "den Blogs" zu lesen… []
  4. Robert Basic hatte hier ein Zwischenfazit zur Burma-Aktion gezogen. Eine Auswertung des Fragebogens – wer mit welcher Motivation usw. sich beteiligt hatte – folgt in einigen Tagen. []
  5. Die Blogbeiträge der "Organisatoren" finden sich hier: Cyan Ta’eed, Collis Ta’eed, Leo Babauta. []
  6. Daten jeweils 16.10 – 10.00Uhr. []
  7. Der "prominenteste" deutsche Blogger, der sich gestern beteiligte ist – soweit ich sehe – Frank Bueltge gewesen. Nennenswert sind daneben u.a. Simon Columbus, Yoda aus der Schweiz. Nach der zu erwartenden Resonanz hatte schon vor 5 Wochen Frank Pleil gefragt – hier. []
  8. also bspw. ausgeprägte politische und/oder ökologische Sensibilität []
  9. Die Botschaft und ihre "Sender" müssen so glaubwürdig und mitreißend sein, so daß ich mich beteilige. []
  10. Und die Platzhirsche in den USA reagierten erst gar nicht. []

11 Gedanken zu „»Wir sind viele«, oder: Die Blogosphäre gibt es nicht | Werkstattnotiz XVI“

  1. Meine Vermutung zu den unterschiedlichen Teilnehmerzahlen in Deutschland: es [die Burma-Aktion] hat sich sehr schnell hochgeschaukelt und in den wenigen Tagen vor der Aktion wurde über das bevorstehende Ereignis berichtet.
    Vom Blog Action Day dagegen hat man in den Tagen vorher fast nirgends etwas gelesen. Ich habe nur in einem englischen Blog (Lorelle) davon gelesen.
    Dann war die Burma-Aktion einfach gehalten: ein Beitrag mit einem Banner – fertig. Die Umweltthematik verlangt eine gewisse Vorbereitung und man muss sich mit dem Thema auseinander setzen. Ein einfacher Hinweis erscheint wahrscheinlich als zu wenig, denn so steht man vielleicht als jemand da, dem die Umwelt egal ist. Also besser ignorieren.

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  2. Dein Einwand zur Blogosphäre ist natürlich richtig. Sieht man sie als Netzwerk mit vielen, vielen Knoten, die aber nur teilweise untereinander verknüpft sind, so waren beim Blog Action Day in Deutschland viele wichtige Knoten (Meinungsmacher? Testimonials?) einfach nicht dabei.

    Erstaunlich ist übrigens, dass beim Vergleich zwischen dem Blog Action Day und Free Burma technorati (Dein Ansatz) und BlogPulse (mein Test) zu völlig unterschiedlichen Ergebnissen kommen. Für mich bestätigt dies einmal mehr den Eindruck, dass diese Tools von Zuverlässigkeit noch weit entfernt sind – was es natürlich Interpretationen sehr schwer macht, vgl. http://thomaspleil.wordpress.com/2007/10/15/blog-action-day/

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  3. @Julia:

    Genau den Umstand, den Du beschreibst (daß nämlich vom „Blog Action Day“ kaum etwas zu lesen war), wollte ich ja eben oben auch zum Ausdruck bringen. ;-)

    Deine Vermutung, daß es bei der Burma-Aktion ja mit dem Banner schon erledigt war und dadurch mehr Blogger beteiligt waren, teile ich nicht ganz. Sicher ist da etwas dran, aber ich glaube, entscheidend ist es, daß der einzelne Blogger überhaupt die Entscheidung trifft, sich zu beteiligen. Ob es dann 5 oder 15 Minuten dauert den Blogpost zu erstellen, ist (so meine These) nebensächlich.

    @Thomas:

    Deine Beobachtung, daß zumindest im deutschsprachigen Raum dieses Mal die „großen Namen“ gefehlt haben (die für Agendasettingprozesse in der Blogsphäre eben mitentscheidend sind), ist 100% zutreffend.

    Und die Abweichungen zwischen Technorati und Blogpulse sind mir auch aufgefallen, wenngleich ich bei Blogpulse etwas skeptisch bin, wenn es um die graphische Darstellung geht. Ich hatte mir gestern abend ein paar Daten rausgezogen und zwischen Burma und dem „Blog Action Day“ bestand in absoluten Zahlen quasi kein Unterschied (gemessen an der Zahl der Posts mit Verweis auf die jeweiligen Aktionsseiten). In der graphischen Darstellung erscheint aber die „Free Burma“-Aktion weniger erfolgreich, was eben daran liegt, daß hier der Anteil am jeweiligen Tagesblogaufkommen herangezogen wird (ca. 0.3 vs. 0.8 %).

    Abgesehen davon: Danke für den Link auf Deinen Beitrag zumselben Thema. Ich hatte diesen gestern abend (als ich kurz recherchiert habe) gar nicht entdeckt, sondern nur den bereits 5 Wochen alten anderen Post gesehen…

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  4. No Prob.

    Jetzt verstehe ich die Abweichungen deutlich besser. Bei der Interpretation der Zahlen stellt sich also die Frage, ob man die Gesamtzahl der Beiträge als Kriterium nimmt (also inklusive der Beiträge zur Aktivierung/Organisation) oder die Zahl der Beiträge am Stichtag (= Aktion). Denke, die Unterscheidung in mind. zwei Phasen einer Kampagne ist sehr hilfreich (sinnvoll wären wohl drei Phasen, wobei die dritte Phase die Nachberichterstattung umfassen könnte).

    Geht man von dieser Differenzierung aus, gab es bei Free Burma eine wirklich bemerkenswerte Aktivierung innerhalb kürzester Zeit…

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  5. @Thomas:

    Du hast vollkommen recht: um wirklich fundiert abschätzen zu können, wie die Mobilisierung für eine solche Aktion verlaufen ist und welche Reichweite sie letztlich erzielt hat, müßte man genau die von Dir angesprochene Einteilung in drei Phasen vornehmen:

    1. Den Zeitraum von Bekanntgabe der Aktion bis zum Tag vor der eigentlichen Aktion.
    2. Den Aktionstag selbst (und die diesbezüglich auflaufenden Postings)
    3. Die Diskussionen hinterher…

    Für meine Zwecke (siehe oben) ist die Annäherung durch die Gesamtzahl der Posts, die im Rahmen eines Events geschrieben wurden, allerdings (denke ich) ausreichend (allerdings muß man hier eben zwischen absoluten und relativen Werten unterscheiden); schließlich kam es mir vorrangig darauf an, zu zeigen, daß die Länge die Vorbereitungszeit nicht kausal mit dem Erfolg korreliert. Außerdem eben, daß auffallenderweise die Sprachgrenzen auch Grenzen innerhalb der Bloggemeinde markieren…

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  6. Meine These: Free Burma war eine Aktion mit einer klaren Aussage und einem Ziel. Der Blog Action Day war hingegen komplett allgemein gehalten und zu unkonkret. Es sollte halt irgendwie um Umwelt gehen. Hätte man stattdessen ein exaktes Thema gewählt mit einer klaren Forderung, wäre es möglicherweise anders ausgefallen.

    Ein unspezifisches Thema lockt eben kaum jemand hinterm (mit fossilen Brennstoffen betriebenen) Ofen hervor.

    Hinzu kommt, dass über das Thema Umwelt in Deutschland und Europa schon ewig rauf- und runterberichtet wird. Ich sehe da keinen Anlass, das jetzt auch nochmal in meinem Blog bei so einer Aktion zu tun.

    Außerdem war kurz vorher eben die Free Burma-Aktion. Manche werden einfach keine Lust gehabt haben, schon wieder ihr Blog durch so etwas fremdbestimmen zu lassen.

    Ich denke alles in allem schon, dass es hauptsächlich mit dem (unspezifischen) Thema zu tun hatte und seiner Umsetzung.

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