Der Marlboro-Mann durchstreift auf der Kinoleinwand immer noch die unendlichen Weiten des mittleren Westens und findet dort in Auseinandersetzung mit der kargen Natur offenbar zum Kern seines männlichen Wesens. Im Gegensatz zu dieser omnipräsenten großen Erzählung der Tabakindustrie-PR zeigt sich, daß das gelobte Land des Rauchers viel eher Deutschland, denn die USA ist.
Im Zuge der anhaltenden Diskussionen um ein einheitliches Rauchverbot in Restaurants und Gaststätten, hat es sich inzwischen allgemein herumgesprochen, daß die Bundesrepublik in Sachen Nichtraucherschutz bislang im internationalen Vergleich sträflich hinterherhinkte. Während andernorts Raucher schon lange an öffentlichen Orten geächtet sind, so dürfen bis dato die Raucher in Kneipen, Bars und Gaststätten weiter recht ungestört vor sich hinqualmen. Es ist gewiß eine Galgenfrist, denn die Gesetze sind nun ja doch noch auf den Weg gebracht. Interessant ist freilich, welche Gründe überhaupt dafür verantwortlich zu machen sind. Reicht es aus, auf die mächtige Lobby der Tabakindustrie zu verweisen? Sind die Steuereinnahmen aus der Tabaksteuer tatsächlich für das Budget der BRD so unverzichtbar?
Ich warte gespannt, bis erste Forschungsarbeiten vorliegen, die die Hintergründe dieses ‚deutschen Sonderwegs‘ entschlüsseln. Verwunderlich ist das Privileg, das Raucher in Deutschland bis dato genießen umso mehr, wenn man bedenkt, daß die ersten Schritte im Kampf gegen den Tabakkonsum hier in Deutschland unternommen wurden. Der Wissenschaftshistoriker Robert N. Proctor [Professor für Wissenschaftsgeschichte an der Stanford University] hatte 2002 in seiner Studie „Blitzkrieg gegen den Krebs. Gesundheit und Propaganda im Dritten Reich“ dargelegt, wie (nach heutigen Maßstäben) progressiv die Gesundheitspolitik im Dritten Reich diesbezüglich ausgerichtet war. Mit der Zielsetzung der Verbesserung der Volksgesundheit wurden umfangreiche Programme gegen Asbest- und Strahlenbelastung, Pestizide und eben gegen die Gefahren des Rauchens aufgelegt. Gleichzeitig wurde die medizinische (Krebs-)forschung intensiviert und die ersten Studien, die die Gefahren des Nikotingenusses belegten, stammen aus dieser Zeit.
Vergangenen Dezember [5.12.2006] war in der SZ ein Interview [geführt von Andrian Kreye] mit Robert Proctor zu lesen, in dem dieser ausführte, welche Gesundheitsgefahren vom Tabakrauch ausgehen. Die interessanten Passagen betreffen das Mißverhältnis zwischen den öffentlich zugänglichen Informationen und den Studienergebnissen, die die Tabakindustrie zumeist unter Verschluß hält. Denn neben den bekannten Elementen wie Teer und Nikotin enthält der Rauch Dutzende weitere Bestandteile, von denen Polonium, Arsen, Nitrosamine oder Benzopyrene nur die wichtigsten sind.
Auf die Frage, was der Industrie bekannt sei, antwortet Proctor:
Proctor: Sie wissen seit Jahren davon und noch viel mehr. In den
geheimen Archiven der Tabakindustrie gibt es hunderte von
Untersuchungsberichten über Polonium. Andere Dokumente beschäftigen
sich damit, ob Spezialfilter Polonium eliminieren können. Das waren
frustrierende Untersuchungen, weil es in Wahrheit sehr schwer ist, ein
Gift aus dem Tabakrauch zu entfernen, ohne ein anderes Gift zu
vermehren. Wenn man den Teer entfernt, atmen die Menschen mehr Nikotin
ein, das beim Verbrennen karzinogene Nitrosamine produziert.SZ: Gibt es nicht deswegen Zigaretten mit Filtern und niedrigem Nikotingehalt?
Proctor: Filter sind ein Mythos. So etwas wie sauberen Rauch gibt es nicht. Sie
beruhigen die Öffentlichkeit, obwohl die Zigaretten-Industrie seit den
30er-Jahren weiß, dass die Filterfunktion des Tabak selbst genauso gut
ist, wie die des Zellulose-Azetats, das heute in Filtern verwendet wird.Deswegen fordern einige Antitabakaktivisten ja auch das Verbot von Filtern.
Sie sparen der Industrie nur Geld und die Leute denken, sie rauchen
gesünder. Das Gleiche gilt für „Light“-Zigaretten. Leute, die darauf
umsteigen, neigen dazu, stärker zu ziehen oder mehr zu rauchen.
Einen sehr spannenden Hinweis gibt Proctor ganz zu Ende des Gesprächs: genau auf diese Asymmetrie zwischen der allgemein vorherrschenden Bagatellisierung der Gefahren und dem inzwischen medizinisch belegten Gefahrenpotential angesprochen, erwähnt Proctor eine aktuelle Studie an seinem Institut in Stanford – es geht (vereinfacht gesagt) um Ablenkungsforschung, wie er es nennt. Also um die Strategien und Mechanismen Unwissenheit herzustellen.
Wenn mich nicht alles täuscht, dann wird von diesem Forschungsansatz den Proctor treffend als Agnotologie bezeichnet, für die Zukunft einiges zu erwarten sein. Denn es ist ganz offensichtlich wirklich eine Kunst, Wissen (über Gefahren) durch die Produktion von Nichtwissen unsichtbar zu machen. Die Wolke der Unwissenheit wird (wie Tocotronic ahnten) für immer um uns sein. ;-)
1 Gedanke zu „Wolke der Unwissenheit » Agnotologie I“