Kann man vom Ende der Band ‚Blumfeld‚ schreiben, ohne sich umzubringen?1 Es ist vermutlich nicht zu viel gesagt, wenn man behauptet, daß der 23. Januar 2007 für die deutschsprachige Pop- und Rockmusik einen Wendepunkt markiert.2 An diesem Tag gab Jochen Distelmeyer, Sänger und Kopf der Hamburger Band, deren Auflösung bekannt. Es gibt mit Sicherheit keine andere deutsche Band, die in den WG-Küchen und intellektuellen Debattierstuben dieser Republik für so viel Gesprächsstoff gesorgt hat.
Für ihr Publikum, das sich selbst zweifelsohne als ‚politisch und sexuell andersdenkend‘3 begriff, waren die Alben, deren Songs und Texte, sowohl identitäts- als auch sinnstiftend. Vokabeln freilich, die für den Großteil der Konsumenten deutschsprachiger Musik4 fremd bleiben mußten. Für all diejenigen, für die Matthias Reim mit "Verdammt ich lieb Dich" einen echt starken Liebessong geschrieben hatte und die heute ‚Juli‘ oder ‚Silbermond‘ für anspruchsvolle Popmusik halten, konnte Blumfeld nur ein unverstandenes Randphänomen bleiben. Wer schon einmal einem lieben Freund5, der tragischerweise Hörer von Format- und Hitradioprogrammen ist, einen Blumfeldsong vorgespielt hat, wird sich erinnern, wie ernüchternd und schmerzhaft es sein kann, in der Mimik seines Gegenübers bestenfalls Stirnrunzeln, in schlimmeren Fällen Entsetzen oder gar Mitleid ablesen zu müssen. Für wieviele Beziehungen die Frage, ob man Blumfeld gut oder schlecht fände, gleichzeitig die Gretchenfrage und das Ende der Beziehung bedeutete?
Orientierungsmaßstab für Distelmeyer waren allerdings glücklicherweise nicht Text- und Allgemeinplatzarrangeure vom Schlage eines Ralph Siegel. Hinter den Wortkaskaden, die Jochen Distelmeyer zu verstörend-faszinierenden Selbstoffenbarungs- und Selbstverortungscollagen auftürmte, glaubte man viel eher Reminiszenen an Foucault6, Lacan oder Derrida zu erkennen. Dabei war es oftmals ein solidarisches Augenzwinkern mit dem Distelmeyer Zitate und Verweise in seine Lieder einstreute und einwob und seinen Hörern damit zu verstehen gab: ich bin einer von euch. Und das funktionierte seit der Gründung im Jahr 1990 erstaunlich gut, zumindest wenn sich die Zuhörerschaft aus philosophischen und germanistischen Oberseminaren rekrutierte.7 Alle anderen erkannten in diesem vielleicht oberlehrerhaften Gestus nur eitles Strebertum und manieristische Wichtigtuerei.
Mit dem Album ‚Ich-Maschine‚ [1992] versetzten Blumfeld allerdings eine ganze Generation von Spex-Lesern in reine Verzückung; in diesem und auch dem nächsten Album ‚L’état et moi‚ [1994] konnte man nämlich eines beobachten: "soziale Randgruppen auf dem Weg zu sich selbst".8
In Blumfeld verband sich Post- und Popmoderne zu einer Einheit im Vielklang. Während in den frühen Jahren explizit und unüberhörbar musikalische Elemente im Vordergrund standen, die nur als Abkehr, Ablehnung und manchmal Abscheu vor dem konventionellen Popdiskurs verstanden werden konnten. So verfolgt Distelmeyer seit dem Album ‚Jenseits von Jedem‚ [2003] eher die Gegenstrategie: die Umarmung. Der kämpferische Impetus, der intellektuelle Nonkonformismus den Distelmeyer wie wohl kein anderer verkörperte, hatte sich irgendwann Ende der 90er verflüchtigt; abgelöst wurde der antibürgerliche Habitus von der Hinwendung zur Besinnlichkeit und Introspektion. Lieder über Liebe, Einsamkeit und Sehnsucht, deren pathetischer Grundton für reichlich Kritik sorgte, standen ab sofort im Mittelpunkt. Bis schließlich im Jahr 2006 das Album ‚Verbotene Früchte‚ einer Naturnostalgie das Wort redete, die manche Kritiker am Verstand Distelmeyers zweifeln ließ, anderen wiederum Anlaß zu einer weiteren Verbeugung vor dem Großmeister einer ironisch-schillernden Weltsicht gab.
Dabei hätte man das Ende der Band Blumfeld schon im Jahr 1992 voraussehen können; denn die Apfelbäume warteten offensichtlich schon damals:
Zurück zum Haus
zwischen den Gleisen und dem Garten,
in dem die Apfelbäume warten, auf die ich kletterte
mich vor Erdanziehung rettete bis jemand rief…9
Im April und Mai diesen Jahres ist die Band Blumfeld10 auf Abschiedstournee. Pflichttermin11 also für all diejenigen, die es mit Tocotronic halten und nicht umhin können, zu sagen: "Und Blumfeld mag ich sowieso."12
Wer die Auseinandersetzung mit der Band Blumfeld nachholen möchte, hat nun die Gelegenheit dazu – die ersten 3 Alben der Band, sowie ein Live-Album und eine CD mit bislang unveröffentlichen Songs (u.a. eine Coverversion von Leonard Cohens ‚The Law‘) sind als 5-CD-Limited-Edition-Archiv erhältlich.
Für alle anderen hier das wunderschöne Video zur Single des Jahres 2006 – "Tics":
- Im ersten Album der Band singt Jochen Distelmeyer "Von der Unmöglichkeit, "Nein" zu sagen, ohne sich umzubringen". [↩]
- Zumindest wurde die Bekanntgabe weithin [hier, hier] mit großem Bedauern zur Kenntnis genommen. [↩]
- 1994 heißt es im Song "2,3 Dinge, die ich von Dir weiß": …wir sind politisch und sexuell andersdenkend… [↩]
- die vermutlich von Blumfeldsympathisanten als ‚Mainstream‘ bezeichnet wird [↩]
- wahlweise und u.U. noch schmerzhafter: "einer lieben Freundin" [↩]
- Und, seien wir ehrlich, um was anderes, denn um "Sexualität und Wahrheit" kreist der Blumfeld’sche Diskurs? [↩]
- Zur Gründungsbesetzung zählte neben André Rattay noch Bassist Eike Bohlen; dieser wurde Mitte der 90er von Peter Thiessen abgelöst, der nach seinem Ausstieg mit seiner eigenen Band ‚Kante‚ beachtliche und überaus verdiente Erfolge feiert. [↩]
- So zumindest eine Passage im Lied ‚Ich-Maschine‘ [↩]
- Ebenfalls aus ‚Ich-Maschine‘ [↩]
- neben J. Distelmeyer [Gesang, Gitarre], sind dies André Rattay [Schlagzeug], Lars Precht [Bassgitarre] und Vredeber Albrecht [Keyboard] [↩]
- Die ersten Konzerte waren dem Vernehmen nach [hier, hier, hier, hier] mehr als lohnenswert! [↩]
- Das bekannte Jan Müller in "Es ist einfach Rockmusik" vom Album "Nach der verlorenen Zeit" [↩]
6 Gedanken zu „Abschied eines älteren Junggesellen » Blumfeld halten zum letzten mal Hof“
Die Box ist ein schönes Geschenk zum Abschied. Enthält sie doch nicht nur die längst vergriffenen ersten Platten, sondern auch bislang nie erhältliches Livematerial von der Band.
Wenngleich die Auflösung auch für mich, den sie jahrelang begleitet hat, traurig ist, so bewundere ich doch die Konsequenz Jochen Distelmeyers. Ich bin sicher, dass er sich irgendwann wieder musikalisch zu Wort melden wird, in welcher Form auch immer. Für das definitiv allerletzte Konzert am 25. Mai in Hamburg habe ich mir jedenfalls eine Karte gesichert, um Abschied von Blumfeld zu nehmen.
Selten gebe ich negative Kommentare im Internet ab, aber hier muß es sein: Was für ein bescheuerter Artikel.
Ich liebe Blumfeld, aber NICHT aus solchen Gründen.
Dem Autor scheint es das wichtigste an der Band zu sein, daß sie ihm das Gefühl gibt, etwas besseres zu sein…
Ich bin anlässlich der diesjährigen Revival Tour auf den Artikel gestoßen. Der Autor des Artikels weiß genau was er geschrieben hat. Manche Menschen mögen die Musik und Texte einfach, ohne die tiefere Bedeutung der Texte zu interpretieren oder sich eben dieses für später aufzuheben.
Es gibt einen Grund weshalb man Blumfeld und Jochen mag, auch wenn der Grund dem Zuhörer selbst nicht zwingend bewusst sein muss.