Carl Friedrich von Weizsäcker ist tot. Der Physiker und Philosoph verstarb am gestrigen Samstag (28.4.2007) im Alter von 94 Jahren. In den Nachrufen und Würdigungen, die heute und in den nächsten Tagen veröffentlicht werden, werden Beschreibungen wie "Universalgelehrter", "Friedensforscher" und "Vordenker" nicht fehlen. Und vermutlich kennzeichnen sie den außerordentlichen Wissenschaftler Weizsäcker in durchaus zutreffender Weise. Was ihn aber neben seinen herausragenden Leistungen auf dem Gebiet der Kernphysik1 auszeichnete, war der tiefe Ernst, mit dem er sowohl naturwissenschaftliche Forschung, als auch Philosophie betrieb.
Schwaches Denken
Das mag zu einem Teil seiner Herkunft und Sozialisation geschuldet sein. Als Sproß einer Kieler Diplomatenfamilie, waren ihm Vokabeln wie Pflicht und Verantwortung von Kindheit an vertraut. Ebenso wie seinen jüngeren Bruder, den Alt-Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker, kennzeichnete ihn eine im ursprünglichen Sinne bürgerlich-konservative Weltanschauung. Dies aber – und das muß man ihm zugute halten – nicht in einer dogmatischen Art und Weise. Sein Denken war – jedenfalls nach meiner Lesart – das Bemühen darum, Lösungsvorschläge zu unterbreiten. Recht zu behalten, war dabei nicht sein Ziel. Fertige Antworten waren ihm stets suspekt. Jedenfalls dann, wenn sie sich autoritär gaben und keinen Widerspruch duldeten. Er steht dabei in unmittelbarer Nähe zu Karl Popper und dessen Versuch, die offene, freiheitliche Gesellschaft gegen ihre Feinde zu verteidigen. Eine vielleicht noch stärkere Verwandtschaft besteht zu Gianni Vattimos Konzept des "schwachen Denkens".2 Genauso wie der Katholik und Sozialist Vattimo, wehrte sich Weizsäcker gegen absolut formulierte Wahrheitsansprüche, vor allem dann, wenn sie mit Machtansprüchen einhergingen.
Fragen von Freiheit, Gerechtigkeit und die Möglichkeit der Sicherung des Weltfriedens nahmen für Carl Friedrich von Weizsäcker allerdings erst nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs eine immer zentraler werdende Bedeutung an. Seine Neugier und ein ungemein scharfer Blick für naturwissenschaftliche Zusammenhänge hatten den jungen Weizsäcker schon früh in Kontakt zu den führenden Physikern der Zwanziger Jahre gebracht. Bereits als Fünfzehnjähriger traf er mit Niels Bohr zusammen und sein akademischer Mentor Werner Heisenberg gab ihm – wie Weizsäcker später zu Protokoll gab – den Ratschlag: "Physik bringt man am besten vor dem dreißigsten, Philosophie am besten nach dem fünfzigsten Lebensjahr zuwege."
Und genau daran hielt sich Weizsäcker – nach Promotion bei Heisenberg im Jahr 1933 und der Habilitation im Jahre 1936 ging er an das Berliner Kaiser-Wilhelm-Institut für Physik. Nach der Entdeckung der Kernspaltung durch Otto Hahn im Dezember 1938 und deren kernphysikalischer Deutung durch Lise Meitner, war für Weizsäcker klar, daß es prinzipiell möglich sein würde, dieses Wissen zum Bau einer Bombe weiterzuentwickeln. Die tödliche Vernichtungskraft einer auf diese Weise initiierten Kettenreaktion war ihm von Beginn an bewußt. Dennoch (oder gerade deswegen?) arbeitete er als Mitglied des sog. "Uran-Vereins" (u.a. mit Hahn und Heisenberg) im Auftrag des Heereswaffenamtes an der Klärung der Einsatzmöglichkeiten der Uranspaltung. Ob die Gruppe um Heisenberg und Weizsäcker letztlich aufgrund moralischer Skrupel oder aufgrund technischer Schwierigkeiten die Entwicklung einer Bombe aufgab und sich auf die Konstruktion eines Reaktors konzentrierte, ist bis heute umstritten.3 Weizsäcker sprach später von der "göttlichen Gnade", die sie vor dem Bau der Bombe bewahrt habe.
Das Erschrecken des Zauberlehrlings
Die Internierung zusammen mit weiteren deutschen Atomphysikern im britischen Farm Hill in den Jahren 1945/1946 mündete in der Festigung einer Überzeugung, die für Weizsäckers weiteres Leben prägend sein sollte. Es ist die Einsicht darin, daß Wissenschaft für Verwendung und Folgewirkung der eigenen Erkenntnisse Verantwortung trägt; und dies selbst, wenn deren Folgen nicht gewollt und nicht einmal bewußt sind. In gewisser Weise trägt dieser ethische Reifungsprozeß Züge des Goethe’schen Zauberlehrlings: die Geister, die Weizsäcker und seine Physikerkollegen riefen, haben sich verselbständigt. Dies ist die schmerzliche Erkenntnis, zu der Weizsäcker (der von den Atombombenabwürfen von Hiroshima und Nagasaki in Gefangenschaft erfuhr) gelangte.
Dabei stand am Beginn seiner Auseinandersetzung mit den neuen Möglichkeiten der Kernphysik lediglich riesengroße Faszination und naiv-idealistischer Wissenstrieb:
(…) man könnte sagen, wenn man die Geschichte des Abendlandes ansieht, die Geschichte der Neuzeit des Abendlandes, dann könnte man wohl die Behauptung aufstellen, die ich gern gelegentlich formuliert und benützt habe: Die Naturwissenschaft ist der harte Kern der neuzeitlichen Kultur, der neuzeitlichen, abendländischen Kultur. Der harte Kern, das heißt, nicht ihr höchstes Ziel, nicht ihr schönster Duft, nicht ihre süßeste Frucht, sondern ihr harter Kern, an dem man sich die Zähne ausbeißen kann. Es sind diejenigen Erkenntnisse, die am zweifellosesten sind, die man gewonnen hat, ob sie nun wichtig sind oder nicht; aber man kommt nicht an ihnen vorbei.
[So Weizsäcker in einem Vortrag der letzten Jahre]
Von nun an sah sich Carl Friedrich von Weizsäcker freilich in der Verantwortung, über das Verhältnis von Wissenschaft und Gesellschaft nachzudenken. Unausweichlich war für ihn, daß es gelte, die "Institution des Krieges" zu überwinden. Und dafür war er mehr und mehr bereit, sich zu engagieren und einzumischen.4 Als am 12. April 1957 Konrad Adenauer die Absicht5 der Bundesregierung bekanntgab, die Bundeswehr mit Atomwaffen auszustatten, formulierte Weizsäcker zusammen mit einigen Kollegen die sog. "Göttinger Erklärung". Das Manifest der Göttinger 18, ihre Weigerung, am Bau von Atombomben mitzuwirken und die Warnung vor einem Atomkrieg, fanden ein gewaltiges Medienecho.
Spätestens jetzt hatte sich Weizsäcker als Mahner, der die verhängnisvolle Risikospirale der atomaren Rüstung kritisierte, in der Öffentlichkeit positioniert. Ein ums andere Mal setzte er sein Prestige und seine Glaubwürdigkeit ein, um vor gesellschaftlichen Fehlentwicklungen zu warnen. Zivilcourage nennt man das wohl heute. 1961 verfasste er (u.a. mit seinem Bruder Richard und Werner Heisenberg) das "Tübinger Memorandum"6, das unter der Überschrift "Mehr Wahrheit in der Politik" u.a. eine Neuausrichtung der Außenpolitik forderte. Die Konflikte der internationalen Staatenwelt und Strategien den ‚Weltfrieden‘ zu sichern, rückten immer mehr ins Zentrum der Arbeit Weizsäckers. Seine Impulse für eine ‚Welt-Innenpolitik‘ wirken in ihrem Anregungspotential bis heute fort. Von 1970 bis 1980 wurde ihm die Leitung eines eigens gegründeten Max-Planck-Instituts zur "Erforschung der Lebensbedingungen der wissenschaftlich-technischen Welt" übertragen. Ab 1971 stand ihm Jürgen Habermas als Institutsdirektor zur Seite, unter dessen Verantwortung weitere (eher sozialphilosophisch orientierte) Wissenschaftler arbeiteten.7 Einen der Arbeitsschwerpunkte bildete selbstverständlich die Friedens- und Konfliktforschung; die Außenpolitik unter Bedingungen der Blockkonfrontation stand hier im Mittelpunkt des Interesses. Daneben gewannen Themen der internationalen Entwicklungshilfe und der Umweltpolitik größere Bedeutung. Dabei gelang es auch, den noch jungen Fragestellungen der Ökologie und Globalisierung (unter dem Schlagwort der ‚internationalen Arbeitsteilung‘) wichtige Perspektiven und Akzente zu verleihen. Nach der Emeritierung Weizsäckers im Jahre 1980 sollte ursprünglich eine Umstrukturierung des Instituts in Starnberg erfolgen, die diesbezüglichen Pläne wurden allerdings 1981 fallen gelassen. Für Carl Friedrich von Weizsäcker freilich war es entscheidend, daß die Wissenschaft ihre Bereitschaft Verantwortung zu übernehmen demonstriert hatte.
Um die Verantwortung für Menschheit und Schöpfung, kreiste das Denken Weizsäckers auch in den Folgejahren, in denen er bei unzähligen öffentlichen Vorträgen seine Ansichten erläuterte und sich immer wieder in tagesaktuelle Fragen einmischte. In den Religionen (gleichviel ob christlich-abendländischer oder fernöstlicher Ausrichtung) sah er Verbündete, um eine ursprüngliche Einheit zu retten, die durch zerstörische Technologien und kulturelle Konflikte immer weiter aufzubrechen droht. Für ihn persönlich, den evangelischen Christen, stellte die Botschaft der Bergpredigt einen verläßlichen Bezugspunkt dar.
Überaus anregend sind freilich die Anmerkungen Weizsäckers zu Fragen des Umgangs mit Technik und technisch fabrizierter Wirklichkeit. Hier findet sich in einigen Punkten interessanterweise eine argumentative Nähe zur Technikphilosophie von Martin Heidegger. Bei Heidegger ist es das technische ‚Gestell‘, das den Menschen herausfordert und in Versuchung führt. Gleichwohl – und hier beginnen schon die Unterschiede – dürfte Heidegger die Möglichkeiten einer Technikkontrolle wesentlich pessimistischer eingeschätzt haben. Wobei: auch Weizsäckers Ausführungen (zumindest wie sie seiner Dankesrede anläßlich des Erhalts des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 1963 zu entnehmen sind) führen letztlich zu einem "Ja-und-Nein-Sagen" zur Technik:
Es gibt eine eigentümliche Faszination der Technik, eine Verzauberung der Gemüter, die uns dazu bringt, zu meinen, es sei ein fortschrittliches und ein technisches Verhalten, daß man alles, was technisch möglich ist, auch ausführt. Mir scheint das nicht fortschrittlich, sondern kindisch. Es ist das typische Verhalten einer ersten Generation, die alle Möglichkeiten ausprobiert, nur weil sie neu sind, wie ein spielendes Kind oder ein junger Affe. Wahrscheinlich ist diese Haltung vorübergehend notwendig, damit Technik überhaupt entsteht. Reifes technisches Handeln aber ist anders. Es benützt technische Geräte als Mittel zu einem Zweck. Den Raum der Freiheit planen kann nur der Mensch, der Herr der Technik bleibt.
Egal, ob man die Hoffnungen Weizsäckers bezüglich der Möglichkeit, "Herr der Technik" zu bleiben, teilen mag. Seiner Grunddiagnose muß man – wenigstens nach meinem Dafürhalten – zustimmen. Und was man mit ebensolcher Sicherheit von ihm lernen konnte, war wissenschaftliche und vor allen Dingen argumentative Redlichkeit. Ich selbst habe dies anläßlich eines Vortrags, den er vor 6-7 Jahren an der Münchner Universität gehalten hat, erleben dürfen. Selten habe ich einen charismatischeren Menschen gesehen, der auf beeindruckende Weise, präzise Rhetorik, hehre Anliegen und souveräne Gelassenheit zu verbinden verstand.
Link- und Literaturtipps:
- Dönhoff, Marion: Denker der Weltinnenpolitik. Eine Würdigung Weizsäckers anläßlich seines 85. Geburtstags. Die ZEIT, 27.6.1997
- von Weizsäcker, Carl Friedrich (1963): Dankesrede anläßlich der Verleihung des Friedenspreises des Dt. Buchhandels. [PDF-Download]
- von Weizsäcker, C.F. und Lesch, Harald: Die Geschichte der Natur. 2006. [Audio-CD]
- von Weizsäcker, Carl Friedrich (20024): Aufbau der Physik. dtv: München.
- von Weizsäcker, Carl Friedrich (20048): Die Einheit der Natur. Studien. dtv: München.
- Hattrup, Dieter (2004): Carl Friedrich von Weizsäcker. Physiker und Philosoph.
- Heisenberg, Werner (1969): Der Teil und das Ganze. Gespräche im Umkreis der Atomphysik. Piper: München.
- Die von ihm (im Alter von 25 Jahren!) zusammen mit Hans Bethe beschriebene Gesetzmäßigkeit bei der Fusion von Kernmassen zählt als "Bethe-Weizsäcker-Zyklus" noch heute zum Kanon jedes Physikstudiums. [↩]
- Auf die Formel "pensiero debole" brachte der italienische Philosoph Gianni Vattimo sein Credo im Jahr 1983. Im hermeneutischen Rekurs auf Nietzsche, Heidegger und Gadamer expliziert Vattimo die Notwendigkeit, die Grenzen des eigenen Denkens offenzulegen. Eine Forderung – hier wieder die Nähe zu Weizsäcker – die sich schon allein aus dem Gebot der Nächstenliebe ergebe. Empfehlenswerter Einstieg: Weiß, Martin G: Gianni Vattimo. Eine Einführung. 2006. [↩]
- Insbesondere der Besuch von Heisenberg und Weizsäcker bei Niels Bohr im Jahre 1941 weist unverändert offene Fragen auf. Wollten die beiden Deutschen den dänischen Physiker zur Kollaboration bewegen oder ihn schlicht in Kenntnis setzen von ihrer Arbeit? Diesen und weiteren Fragen geht der engl. Dramatiker Michael Frayn in seinem Stück ‚Copenhagen‚ nach. [↩]
- Später beschrieb er seinen Bruder Richard einmal als ‚philosophierenden Politiker‘ und sich selbst als ‚politisierenden Philosophen‘ [↩]
- Adenauer hatte u.a. verharmlosend erklärt, es handle sich nur um ‚kleine Atomwaffen‘ und somit sei es "nichts weiter als die Weiterentwicklung der Artillerie." [↩]
- Das Tübinger Memorandum datiert übrigens tatsächlich auf das Jahr 1961 und nicht, wie heute in den ersten Würdigungen nachzulesen ist, auf 1962. Die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze war eines der zentralen Anliegen. [↩]
- Unter den Wissenschaftlern im Starnberger Institut befanden sich so renommierte Forscher wie Klaus Michael Meyer-Abich, Ernst Tugendhat, Wolfgang Krohn, Gernot Böhme, Wolfgang van den Daele oder Tilman Spengler [↩]
3 Gedanken zu „Ermunterungen zum aufrechten Gang » Der Weg Carl Friedrich von Weizsäckers vom Innenraum der Atome zur Weltinnenpolitik“
Nur ein Hinweis auf einen kleinen Fehler bei den Links:
der Link „Weizsäcker“ wird im 2. Abschnitt (richtig) für Richard von Weizsäcker verwandt, in den Abschnitten 3 und 4 sollte aber der Link auf Carl Friedrich von Weizsäcker zeigen. D.h. hier muss ein anderer Link verwendet werden.