Die Ausgangssituation ist alltäglich und schnell skizziert: wer ein Stechen im Knie oder ein Ziehen im Unterbauch verspürt, begibt sich zur Behandlung der fraglichen Beschwerden zu einem Arzt oder in schwereren Fällen sofort in eine Klinik. Dort erwartet den Patienten das medizinisch geschulte Fachpersonal, das den Ursachen der Krankheit mit allerlei (Diagnose-)Techniken und Instrumenten auf den Grund geht. Wachen und erfahrenen Auges, hochkonzentriert und beseelt von dem Wunsch zu helfen, zu lindern und zu heilen, rückt der Arzt dem gequälten Patienten buchstäblich auf den Leib.
Das Gesundheitssystem als Beobachtungs- und Etikettiermaschine
Was könnte selbstverständlicher sein? Der kranke Mensch hat den naheliegenden Wunsch, von seinen Leiden befreit zu werden. Und, wenn die Mittelchen der Hausapotheke, all die Kräutertees und Aspirin nicht mehr weiterhelfen, dann wird eben ein Fachmann konsultiert. Und zunächst müsste man diesem selbstverständlichen Vorgang auch keine weitere Beachtung schenken.1 Schließlich ist das Gesundheitssystem dasjenige gesellschaftliche Funktionssystem, das die Aufgabe der Salutogenese, also der ‚Gesundwerdung‘, innehat. Die Grundunterscheidung bzw. Leitdifferenz [wenn man hier die Luhmann’sche Terminologie verwenden will]2 ist diejenige von krank|nicht-krank. Was also das Gesundheitswesen als ‚System‚ interessiert, ist die Frage, ob die Klienten in das bezeichnete Schema passen, also krank sind und – dieser Punkt ist tatsächlich von entscheidender Bedeutung! -, ob dem System Medizin geeignete Verfahren zur Verfügung stehen, um diagnostizierte Krankheit in vorläufige? Gesundheit zu transformieren.3
Kurz gesagt: das Gesundheitssystem ist eine Instanz der Umetikettierung – es werden erkrankte Menschen [=Patienten] in das System eingespeist und bei Erfolg der Therapie mit dem Etikett ‚gesund‘ versehen und folglich entlassen. Wer nicht krank [im Sinne des Etikettierungs- und Beobachtungsapparats Medizin] ist, für den ist in den Institutionen des Gesundheitssystems kein Platz. Ernüchterte Patienten mit bspw. psychosomatischen Beschwerden können von dieser Praxis beredt Auskunft geben.
Aus dieser internen Funktionslogik heraus ergeben sich freilich bestimmte Konsequenzen, die als manifeste Strukturkomponenten und – wie zu zeigen sein wird – teilweise als latente Überforderungen zu Tage treten. Die Leitdifferenz krank|nicht-krank wird jedenfalls anhand vieler Details sichtbar; jeder kennt beispielsweise die klare Grenzziehung im Behandlungszimmer: der Patient sitzt auf einem Stuhl oder einer Krankenliege, auf der er Blutdruckmessung, Bestimmung weiterer Vitalwerte und die Befragungstechniken der Anamnese über sich ergehen läßt bzw. wie es im Wort ‚Patient‘ zutreffenderweise zum Ausdruck gebracht wird: erduldet. Hinter dem Schreibtisch sitzt der weißgewandete Repräsentant des Gesundheitssystems, vor dem Schreibtisch das kranke Häuflein Elend. Allerdings, und hier wird es spannend, verstellt diese so offensichtliche Unterscheidung zwischen krank|gesund den Blick auf einige Nebeneffekte dieser Systemstruktur.
Der blinde Fleck und die Krankheitsimmunität des Gesundheitssystems
Eine der augenfälligsten Nebenfolgen der geschilderten Beobachtungsroutinen ist die Blindheit des Funktionssystems ‚Medizin‘, wenn die Gesundheit ihrer Angehörigen (also der Ärzte und des Pflegepersonals) selbst in Frage steht. Dieser Umstand wurde in letzter Zeit immerhin in verschiedenen Zeitungsartikeln thematisiert [hier, hier] und resultiert aus dem (zumindest vordergründigen) Paradox, daß bezüglich des physischen und psychischen Wohlbefindens seiner Mitglieder das Gesundheitssystems lange Zeit blind war.
Diese eingebaute – wenn man so will – Sehschwäche kann allerdings (wenigstens systemtheoretisch bedacht) kaum verwundern; ein Angehöriger des Gesundheitssystems kann – jedenfalls solange er durch sich und andere als solcher betrachtet wird –4 nicht erkranken. Oder, man könnte es auch mit Peter Fuchs sagen und feststellen: Das Gesundheitssystem ist niemals verschnupft.5
Allerdings wäre es verkehrt, darin eine Besonderheit des Gesundheitssystems zu sehen. Denn zumindest von einem systemtheoretischen Blickwinkel aus betrachtet ist es wenig erstaunlich, daß systemintern die Gesundheit des medizinischen Personals kaum eine Rolle spielt. Untersuchungen dazu liegen nur wenige vor. Aber hat sich jemals schon jemand gewundert, wieso Erhebungen zur Steuerzahlungsmoral von Finanzbeamten Mangelware sind? Und die Statistik, die aufschlüsselt, wieviele KFZ-Mechaniker jährlich mit Getriebeschaden auf bundesdeutschen Autobahnen liegen bleiben, muß vermutlich auch erst noch erstellt werden. Aber genauso wie die Steuerbehörden es nicht sehen können oder wollen, ob sich ihre eigenen Mitarbeiter im fiskalischen Regelungsdschungel innerhalb oder außerhalb der gesetzlichen Vorgaben bewegen, so zeichnet sich das Gesundheitssystem durch eine immanente Betriebsblindheit aus.
Hierarchien, Unterordnung und Arbeitsüberlastung – Wie der Traumberuf Arzt zum Trauma wird
Umso irritierter ist deshalb die Öffentlichkeit, wenn sie erfährt, daß es um die Gesundheit der deutschen Ärzte nicht zum Besten bestellt ist.
Die eigene Gesundheit sei für Ärzte offenbar ein heikles Thema, sagte der DGIM-Vorsitzende6 Wolfgang Hiddemann vom Klinikum Großhadern der Universität München. „Es wird höchste Zeit, dass sich unser Berufsstand systematisch mit der eigenen körperlichen und seelischen Verfassung auseinandersetzt.“ (…) Verdrängen, verschleppen, verheimlichen: Diese Verhaltensweisen scheinen bei kranken Medizinern besonders ausgeprägt zu sein.
[Siegmund-Schultze, Nicola: Ein Mediziner kennt keinen Schmerz, Berliner Zeitung, 20.4.2007]
Die Gründe hierfür sind bislang nur zu erahnen. Die aufzehrenden Arbeitsbedingungen an deutschen Kliniken spielen allerdings sicherlich eine Rolle. Aber auch niedergelassene Ärzte klagen immer massiver über Arbeitsüberlastungen – innerhalb einer Studie der Universität Erlangen-Nürnberg äußerten sich 77,7% aller Ärzte „resignativ oder unzufrieden über ihre vertragsärztliche Tätigkeit“, ca. 1/3 der Mediziner ist akut vom Burn-out-Syndrom bedroht.7 Neben der oftmals aufreibenden Tätigkeit ist es gerade in Kliniken auch das Arbeitsklima, das v.a. jungen Ärzten zu schaffen macht; wie in einem Artikel der ZEIT nachzulesen ist, gehört Mobbing zum Alltag in deutschen Krankenhäusern:
(…) dass für die jungen Ärzte nicht nur lange Arbeitszeiten und schlechte Bezahlung Gründe zur Klage sind. Viele leiden auch am Arbeitsklima in den Krankenhäusern. Gilt es als selbstverständlich, mit den Patienten freundlich umzugehen, ist im Umgang mit Kollegen offenbar das Gegenteil indiziert: Schwächen und Probleme sind unerwünscht, es wird hart und rücksichtslos kritisiert. »Da bleibt keine Zeit, kein Raum, keine Kraft, um Konflikte in Ruhe auszutragen«. (…)
Besonders die Nachwuchsmediziner leiden unter dem hierarchisch organisierten System, in dem die strikte Rang- und Hackordnung die untergebenen Ärzte oftmals zu Befehlsempfängern degradiert. Bezüglich ihrer Lebenszufriedenheit äußerten sich bspw. nur 6 Prozent der Assistenzärzte positiv und mehr als 50% klagten über Schlafprobleme. Im Zeit-Artikel (25.1.2007) ist zu lesen:
»Wir können davon ausgehen, dass viele Mediziner in Deutschland psychisch beeinträchtigt sind«, sagt Jurkat.8 Im Jahr 2003 befragte Jurkat auch Ärzte im Praktikum zu ihrem Wohlbefinden. Der Befund alarmierte: Um die Psyche des Nachwuchses war es im Durchschnitt schlechter bestellt als bei chronisch kranken Menschen.
Eine Folge dieser schwierigen Arbeitsbedingungen ist, daß Ärzte in Deutschland die Berufsgruppe mit der höchsten Quote von Medikamentenmißbrauch und -abhängigkeit sind. Für diese erschreckende Tatsache sind im wesentlichen drei Faktoren verantwortlich zu machen: 1. die permanente Stressituation, die zu Überforderung mit Burn-out-Tendenzen führt, 2. die leichte Verfügbarkeit von Medikamenten und 3. die Illusion von Medizinern, mit den Suchtmitteln kontrolliert umgehen zu können. Die Selbstüberschätzung und die leichte Verfügbarkeit führt im Ergebnis dazu, daß (vorsichtigen) Schätzungen zufolge ca. 7-8% aller Ärzte massiv suchtgefährdet oder abhängig sind. Die größte Rolle spielt freilich der Alkoholmißbrauch, dahinter rangieren Valium9 und verschiedene Opiate.10 In absoluten Zahlen bedeutet das, daß ca. 8.000-12.000 der deutschen Ärzte als alkohol- und/oder medikamentenabhängig einzustufen sind.
Gerade bei jüngeren Ärzten, die oftmals einen sehr hohen Leistungsanspruch an sich selbst stellen, ist der Griff zu Schlafmitteln leider häufig die Notlösung, um trotz der Belastungen und Frustrationen des Arbeitsalltags wenigstens in der Nacht Ruhe zu finden. Eine aktuelle Erhebung geht davon aus, daß 20% der Ärzte im Praktikum regelmäßig Schmerz- und Schlafmittel einnehmen.
Eine weitergehende Ursachenforschung müßte nun freilich in den Blick nehmen, ob möglicherweise die medizinische Ausbildung an den Universitäten mitverantwortlich für diese Entwicklung ist. Die Erörterung der Defizite des Medizinstudiums hinsichtlich der Vorbereitung der angehenden Ärzte auf den Umgang mit sterbenden und kranken Menschen, soll allerdings zu einem späteren Zeitpunkt in der Wissenswerkstatt erfolgen.
Die soziale Fragilität und Stabilisierung von Vertrauen
Zuletzt soll der beobachtende Blick vom (medizinischen) System nochmal auf dessen ‚Umwelt‘ gerichtet werden; daß das System selbst die Tendenz aufweist, die physische und psychische Krankheitsanfälligkeit seiner Mitglieder zu ignorieren, wurde oben erläutert. Die Frage ist nun aber, was es für die ‚Öffentlichkeit‘ bedeutet, wenn sie akzeptieren muß, daß das Gesundheitssystem aus sich heraus Überforderung und Krankheit produziert. Ist diese Kenntnis nicht fatal, wenn man sich vergegenwärtigt, daß die Beziehung zwischen Arzt und Patient im wesentlichen auf Vertrauen basiert? Denn sowohl das gesellschaftliche Teilsystem, der die medizinische Versorgung obliegt, als auch jeder ihrer Vertreter ist auf Vertrauen unbedingt angewiesen.
Nun sollte man aber nicht so naiv sein und glauben, es gäbe keine weiteren abfedernden Mechanismen, die einer vorschnellen Vertrauenserosion entgegenwirkten. Wie in vielen anderen gesellschaftlichen Bereichen sind auch im medizinischen Bereich aus guten Gründen quasi-rituelle Formen der Vertrauensstabilisierung vorhanden, die – wie man feststellen kann – auch funktional wirksam sind. Sicher, es ließe sich darauf verweisen, daß innerhalb einer so spezialisierten wie arbeitsteiligen Gesellschaft der Aufgaben- und Vertrauenstransfer längst alltäglich geworden ist. Seine finanziellen Geschäfte legt man vertrauensvoll in die Hände des freundlich lächelnden Herrn in der Bankfiliale und der KFZ-Mechaniker erwirbt schon allein durch seine ölverschmierte Arbeitskleidung das Zutrauen, daß er in der Lage ist, das klappernde Vehikel noch einmal fit für den TÜV zu machen. Und, so die naheliegende Analogie, wer eines morgens mit Arthroseschmerzen im Knie oder Magenkrämpfen erwacht, der sucht reflexhaft den nächsten Arzt auf und hofft, daß dieser schnell und effizient für Linderung sorgt.
Dieser Ablauf und die zugrundeliegende Erwartungshaltung ist zwar alltäglich, aber keineswegs selbstverständlich. Denn für jeden aufmerksamen Zeitungsleser gehören die Meldungen über Schmerzensgeldforderungen oder Kunstfehlerprozesse zur täglichen Morgenlektüre; vom Wissen bezüglich der Unzulänglichkeit der medizinischen Versorgung, das man vom Hörensagen her hat, ganz zu schweigen.11 Vor diesem Hintergrund bleibt einem wenig anderes übrig, als den Gang zum Arzt als höchst irrationales Unterfangen zu bezeichnen. Oder anders formuliert: der aufgeklärte Bürger und Zeitungsleser geht nicht wegen, sondern trotz seines Kenntnisstandes zum Arzt. Erklärt werden kann dies nur durch den oben angesprochenen Vertrauenserweis, der quasi-reflexhaft erfolgt. Der Vertrauensvorschuß, den die jeweilige auf Hilfe angewiesene Person dem medizinischen Fachpersonal gegenüber erbringt, entspringt allem Anschein nach einem fest im menschlichen Handlungsrepertoire verankerten Mechanismus.12 Allein der Anblick eines Mediziners genügt offenbar, um eine ganze Verhaltenskaskade auszulösen, in der der Vertrauenserweis eine zentrale Rolle spielt.13 Als Nachweis seiner Kompetenz genügt dem Angehörigen des Gesundheitswesens sein weißer Arztkittel und das locker um den Hals baumelnde Stethoskop.
Aber vielleicht deuten diese gerade im medizinischen Sektor zahlreich aufzufindenden Insignien der Heilkunst auch auf einen anderen, eher verborgen-untergründigen Zusammenhang hin. Denn, machen wir uns nichts vor, die heutigen Mediziner stehen hinsichtlich ihrer Funktion in unmittelbarer Nachfolge zu den Heilern, Medizinmännern oder Schamanen unserer Vorzeit. Berücksichtigt man diese Verbindung, so ließe sich möglicherweise auch leichter erklären, weshalb sich Ärzte offenbar so schwer tun, einen Kollegen zu konsultieren. Denn hat man jemals davon gehört, daß ein Schamane im Falle eines eigenen Gebrechens einen anderen Schamanen oder Heiler aufsucht? Wer diese Erklärung für wenig plausibel erachtet, der kann vielleicht einem anderen Erklärungsansatz etwas abgewinnen, der da lautet: Mißtrauen gegenüber dem eigenen Berufsstand. Mag sein, daß die Tendenz von Ärzten, die eigene Krankheit so lange als möglich zu verdrängen, der Einsicht in die praktische Realität des Gesundheitssystems entspringt. Denn wer einmal hinter die Kulissen des Gesundheitssystems geblickt hat, der weiß, wie begrenzt die Fähigkeiten der ärztlichen Heilkunst immer noch sind. Und er weiß auch, daß einem schließlich doch nur die Hoffnung bleibt, daß einem eine tatsächlich (lebens-)bedrohliche Krankheit doch bitte erspart bleibe.
Link- und Literaturtipps:
- Viciano, Astrid: „Guter Arzt, kranker Arzt„, Die ZEIT, 25. Januar 2007
- Siegmund-Schultze, Nicola: „Ein Mediziner kennt keinen Schmerz„, Berliner Zeitung, 20. April 2007
- Jurkat, H. B. & Reimer, C. (2001): Arbeitsbelastung und Lebenszufriedenheit bei berufstätigen Medizinern in Abhängigkeit von der Fachrichtung. Schweizerische Ärztezeitung, 82, 1745-1750. [PDF-Download]
- Jurkat, H.B., Reimer, C. (2005): Lebensqualität und Wohlbefinden bei berufstätigen Medizinern im interkulturellen Vergleich Deutschland und USA. In: Helmes, A. (Hrsg.) Lebensstiländerungen in Prävention und Rehabilitation, S. 144ff.
- Stollberg, Gunnar (2001): Medizinsoziologie. Transcript-Verlag.
- Bauch, Jost (2002): Gesundheit als sozialer Code. Juventa Verlag.
- Mäulen, Bernhard (1995): Abhängigkeit bei Ärzten. In Faust, V.: Lehrbuch der Psychiatrie. Fischer, Stuttgart
- Bergner, Thomas M. H. (2006): Burnout bei Ärzten. Schattauer-Verlag.
- Luhmann, Niklas (1990): Der medizinische Code, in ders., Soziologische Aufklärung 5, Konstruktivistische Perspektiven, Opladen, S.183-217.
- Hafen, Martin (2006): Mythologie der Gesundheit. Zur Integration von Salutogenese und Pathogenese.
- Website des Instituts für Ärztegesundheit
- Interessant wird es – und das soll im vorliegenden Text skizziert werden – wenn man den Konsequenzen nachspürt, die sich aus den dem Medizinsystem zugrundeliegenden Leitdifferenzen/Beobachtungsmustern
zwangsläufig?ergeben. [↩] - Niklas Luhmann hat sich nur in wenigen Texten explizit mit dem Gesundheitswesen befasst. Allerdings erscheint die konstruktivistische Perspektive besonders geeignet, das Gesundheitssystem in den Blick zu nehmen; denn was anderes als ‚Konstrukte‘ sind die Etiketten Gesundheit/Krankheit, die ja eben, wenn sie nicht beobachtet und [differentialdiagnostisch] unterschieden würden, tatsächlich irrelevant wären. Gerade die hochtechnisierte Medizin unserer Zeit hat den ehemals vorhandenen Zusammenhang zwischen ‚erlebt-erlittenen‘ [=spürbaren] Symptomen und Behandlungsbedürftigkeit aufgelöst.
Die Terminologie und Handlungslogik der Medizin ist nicht mehr direkt an die Körper- und Sinneswelt des Patienten gekoppelt. Oftmals ist es erst und ausschließlich die ‚Beobachtung‘ durch Instanzen des Gesundheitssystems, die einen Menschen zu einem Patienten macht. Denn was wüßte der erkrankte Mensch bei fehlenden Schmerzen und Symptomen von seiner in seinem Körper befindlichen ‚Krankheit‘ ohne das ‚Beobachtungssystem‘ Medizin? vgl. u.a. Luhmann, Niklas (1990): Der medizinische Code, in ders., Soziologische Aufklärung 5, Konstruktivistische Perspektiven, Opladen 1990, S.183-217. [↩] - Es erscheint banal, aber ein kurzer Blick in die ärztliche Praxis illustriert, welche Kunstfertigkeit erforderlich ist, um auf die jeweiligen Anforderungen [der Akutsituation, des zweifelnden Patienten, etc.] die richtige ‚Antwort‘ zu geben. Und jede Antwort ist – systemtheoretisch formuliert – [kommunikativer] Anschluß. Und diese Anschlüsse addieren sich insgesamt als Sequenzkette zur ärztlichen Handlungspraxeologie. Wobei, das gerät allzu leicht aus dem Blick, wenn die Medizin keine Anschlüsse [also Kommunikationseinheiten, die sich entweder als Diagnose oder Therapie ausgeben] parat hat, dann bleibt ihr nichts anderes als zu kapitulieren. M.a.W.: Die Medizin muß immer weiter wissen! [↩]
- Ein Arzt oder ein Krankenpfleger wird niemals unter Beibehaltung dieser Statuszuschreibung bzw. dieses (Selbst-)Verständnisses krank. Dazu ist erst ein Perspektiv- und Rollenwechsel erforderlich: der kranke Arzt hat längst aufgehört Arzt zu sein. Wenn Schmerzen und Symptomatik eine Erkrankung anzeigen, dann ist er nicht mehr länger Arzt, sondern Patient! [↩]
- So der Titel seines Aufsatzes in: Bauch, Jost (2006): Gesundheit als System. Systemtheoretische Betrachtungen des Gesundheitswesens. [↩]
- Deutsche Gesellschaft für innere Medizin [↩]
- Alle Werte sind einer Zusammenstellung von Dr. Renate Rottenfußer entnommen; nachzulesen unter: „Burnout deutscher Vertragsärzte. Konsequenzen für die betroffenen Ärzte, ihre Patienten und das deutsche Gesundheitswesen“ auf www.aerztegesundheit.de [↩]
- Harald B. Jurkat ist Psychologe an der Universität Gießen. [↩]
- Valium [Wirkstoff: Diazepam] wird zur symptomatischen Behandlung von akuten und chronischen Spannungs-, Erregungs- und Angstzuständen eingesetzt; ein Nebeneffekt ist die sedierende und schläfrig machende Wirkung. Die regelmäßige Einnahme kann psychische und physische Abhängigkeit hervorrufen. [↩]
- Opiate zählen zur Gruppe der Alkaloide und haben schmerzlindernde und bewußtseinsverändernde Wirkung. Die größte Rolle spielen Codein und Morphin. [↩]
- Denn wer kennt keine Berichte über haarsträubende Versäumnisse und Fehler, die sich im nächstgelegenen Krankenhaus zugetragen haben? [↩]
- Dessen selbstverständliche Wirksamkeit eigentlich verwundern müßte: jede Konsultation eines Arztes oder gar erst die Einlieferung in eine Klinik bedeuten schließlich einen Souveränitätsverzicht in Bezug auf die individuelle körperliche Selbstbestimmung. Ist es nicht erstaunlich, daß in einer Gesellschaft, die sich durch ein Höchstmaß an persönlicher Eigensinnigkeit und Autonomie auszeichnet, dieser Selbstbestimmunganspruch ohne weiteres übertragen wird? [↩]
- Daneben sind hier u.a. der beachtliche Respekt und die Ehrerbietung, die dem Arzt entgegengebracht wird, zu nennen; genauso bspw. auch die Anspannung (oftmals einhergehend mit kalten, schwitzigen Händen), die fast alle Patienten beim Betreten des Behandlungszimmers erfasst. [↩]