Wie ich eben bei Oliver lese (dessen Blog, nebenbei bemerkt, einen der schönsten denkbaren Untertitel trägt), haben Tocotronic einen ersten Appetithappen auf das kommende Album „Kapitulation“ veröffentlicht. Die vermutlich erste Singleauskopplung ist das ungestüm krawallige „Sag alles ab„, das beim ersten Hin- und Anhören wunderbare Erinnerungen an frühere Songs wachruft. Es ist – so wird beim zweiten Hören deutlich – vertonte Barrikaden- und Maschinenstürmerei. Reminiszenen an frühe Blumfeldsongs der Verstärker-Zeit klingen an und zu Beginn wird zugleich eine Verbeugung vor Kristof Schreuf angedeutet.1
Auf der Tocotronic-Website spricht Dirk von Lowtzow das Manifest der Kapitulation. Sollte man ernsthaft darüber erstaunt sein, daß die Kapitulation als schönstes deutsches Wort (das von Fall|Verfall|endgültiger Unterwerfung|Niederlage und gleichzeitg unserem größten Triumph kündet) gepriesen und ausbuchstabiert wird?
Sicher kein Zufall, daß der Vorausblick auf die neue Platte mit diesem Lied beginnt2 und daß als Termin offenbar der 1. Mai gewählt wurde. Denn wem bei den Passagen, in denen Dirk von Lowtzow dazu auffordert, die Maschine anzuhalten und die Unterwerfungskonventionen zu suspendieren, nicht ein vollbärtiger Anwaltssohn aus Trier in den Sinn kommt, dem ist wohl nicht mehr zu helfen. Und wenn dann der Aufruf folgt, die Fesseln zu sprengen, dann ist das nichts weniger als die Aufforderung, den Weg aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit anzutreten. Ein illustrer Kreis also, der mit Tocotronic losmarschiert – denn, noch prominenter als Kant, wird Jean-Jaques Rousseau3 herbeizitiert. Aufklärung, Bildung und antikapitalistischer Humanismus gehen Hand in Hand – so glauben wir gerne an die Prophezeiung, die „Sag alles ab“ zum Schluß bereithält: „Die Zeit der Schmerzen ist vorbei!“
Und hier kann das Album Kapitulation von Tocotronic als Limited Edition/Doppel-CD reserviert werden.
- Kristof Schreuf ist Autor und Sänger. Seine Band „Kollosale Jugend“ zählte zur Gründergeneration der sog. „Hamburger Schule“. 1997 veröffentlichte er eine Platte mit seinem neuen Bandprojekt „Brüllen“. Mit seinem Text „Wahrheit ist das wovon Männer gerne behaupten, dass es ihnen um sie geht“ nahm er 2003 am Klagenfurter Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb teil. 2005 erschien von ihm bei Suhrkamp: „Anfänger beim Rocken„. [↩]
- Und diese erste Hörprobe wird – zumindest in der Blogosphäre – durchaus wohlwollend bis enthusiastisch kommentiert. Bspw. hier, hier, hier, in der Schweiz und von Bernd Schmidl. Und auch die Intro stellt – wie ich soeben nachträglich [3.5.2007|17:30] sehe – die frappierende Nähe zu „Jet Set“ von Blumfeld fest. [Edit: 21.5.: Und auch die Popnutten haben das Kleinod entdeckt.] [↩]
- Rousseaus „Contrat Social/Vom Gesellschaftsvertrag“ beginnt bekanntlich mit den Zeilen: „L´homme est né libre, et partout il est dans les fers. Tel se croît le maître des autres qui ne laisse pas d´être plus esclave qu´eux. Comment ce changement s´est-il fait?“ – „Der Mensch ist frei geboren, und überall liegt er in Ketten. Der eine dünkt sich Herr der anderen und ist doch mehr Sklave als jene. Wie ist dieser Wandel zustandegekommen?“ [↩]
3 Gedanken zu „Maschinenstürmer » Aufstieg und Fall der Gruppe Tocotronic“
danke für das kompliment …
es ist doch immer wieder schön zu sehen, wenn sich kreise schließen, z.b. wie bei blumfeld, die zu beginn und ende ihres outputs eine seltsame nähe zu äpfeln thematisierten. nun bei tocotronic ist der rahmen nun ein weiterer, es soll aber noch lange nicht vorbei sein. hoffe ich zumindest.
schöner artikel