Querverweise » Fundstücke, Lesenswertes & Links – 05

Fundstuecke_01c.jpgWer sich noch nicht in seinen Sommerurlaub verabschiedet hat, könnte bei der Zeitungslektüre zur Ansicht gelangen, es laufe derzeit ein Wettbewerb des Leugnens und Vertuschens. Ist es anders erklärbar, daß die Schlagzeilen momentan von Meldungen dominiert sind, denen meist postwendend ein Dementi der Beschuldigten oder Verdächtigten folgt, wenige Zeit später sich just der kolportierte Verdacht bestätigt und, was ebenso charakteristisch ist, zusätzlich noch durch weitere Enthüllungen übertroffen wird.

Welches obskure Gremium diesen Wettbewerb der subtilen Informationsblockade ausgerufen hat, ist logischerweise nicht in Erfahrung zu bringen. Auch hier gilt: es gewinnt derjenige, der am längsten und dreistesten auf seinem Schweigerecht beharrt. Immerhin ist zu beobachten, welche Branchen aktuell führend sind: der Zweikampf hat sich ganz offensichtlich zu einem Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen dem Radsport und der Atomindustrie entwickelt. Im Vorfeld hätte ich persönlich ja durchaus auf die radelnden Ausdauerathleten gesetzt; in meinen Augen hatten sie v.a. in den Kategorien Scheinheiligkeit und Naivität unbedingt die Favoritenrolle inne. Und die laufende „Tour de France“ sollte noch genügend Indizien für substanzielle Zweifel an der Redlichkeit ihrer Protagonisten liefern.

Überraschend hat freilich die bundesdeutsche Atomindustrie zum Sprint an die Spitze des Feldes angesetzt. Zwar sind ihre Trumpfkarten Brunsbüttel, Krümmel und Co. bereits ausgespielt, aber erstaunlicherweise gelingt es den Informations(verweigerungs)strategen weiterhin, daß neue Pannen und Mängel publik werden, die bislang verheimlicht wurden. Man darf gespannt sein, wer das Rennen macht. Insgeheim setzte ich doch noch auf den Radsport: denn von ihrem Joker Jan Ullrich – dem ungekrönten Meister des Dementis wider besseren Wissens und entgegen der erdrückenden Indizienlast – darf man noch einiges erwarten.1

 

 


»1. Themawechsel: Vollkommen ohne Zuhilfenahme pharmakologischer oder anderweitiger aufputschender Substanzen wird vom 20.-22. September 2007 an der Universität Bamberg ein Workshop unter dem Titel „Das neue Netz? Bestandsaufnahme und Perspektiven“ stattfinden. Seit heute ist das recht vielversprechende Programm verfügbar und am Samstagvormittag (22.9.) werde ich dort selbst einige Gedanken zur Wissenschaft im Post-Gutenberg-Zeitalter präsentieren.

Im Kern wird sich mein Vortrag mit der Frage befassen, welche Bedingungen eine Wissenschaft 2.0 erfüllen müßte und welche Vorteile eine solche Transformation bieten würde. Natürlich werde ich auch versuchen, die Barrieren, die bislang einer Dynamisierung der wissenschaftlichen Publikationsformen entgegenstehen, herauszuarbeiten. Weitere Informationen zu meinem Vortrag unter dem Arbeitstitel „Kränkungen, Blindheit und Traditionen im Zeitalter der digitalisierten Wissenschaft – Der schwierige Weg zur Wissenschaft 2.0“ werde ich zu gegebener Zeit hier vorstellen. Wer Ende September Zeit hat und in Bamberg vorbeischauen möchte, kann sich auf der Workshophomepage natürlich das Programm ansehen und sich auch online anmelden.

Insgesamt sind wirklich spannende Themen dabei; es geht genauso um politische Akzente in der Blogsphäre und darum, wie sich hier (Gegen-?)Öffentlichkeiten konstituieren, wie etwa (sehr spannend!) darum, wie innerhalb virtueller Netzwerke mit Vertrauen umgegangen wird und dieses als Schmiermittel fungiert. Dazu gibt es noch einige andere vielversprechende Vorträge und ich persönlich bin auch gespannt, einige Personen, die mir in der Blogsphäre bekannt sind, nun auch persönlich kennenzulernen.
 


»2. Aus interessanter Richtung nähert sich Reinhard Kahl in der ZEIT dem bundesdeutschen Unterrichts- und Schulalltag. Das Selbstverständnis des Lehrpersonals und das Verhältnis der Lehrer zu den ihnen anvertrauten Schülern steht im Mittelpunkt des ersten Teils seines unbedingt lesenswerten Essays. Gut, die Diagnose ist nicht neu, daß Lehrer oftmals eine latente Schülerphobie entwickeln, wenn sie nicht ohnehin schon beim Eintritt in den Schuldienst insgeheim davon überzeugt waren, daß es sich bei den Schülern eher um eine lästige Begleiterscheinung ihres Berufsalltags handelt. Dennoch ist die Feststellung auch in ihrer Wiederholung zutreffend, daß gemäß ihres Selbstverständnisses leider allzu viele Lehrer schlicht nur bestimmte Fächer unterrichten. Wenn sie Schüler unterrichteten und sich dessen bewußt wären, wäre es einem wohler.

Eine der Folgen dieses grundlegenden Mißverständnisses seitens der Lehrer ist die gespiegelt-distanzierte Haltung der meisten Schüler, die zu jeder (Lern-)Anstrengung lediglich durch die Androhung bzw. Durchführung von Tests/Klausuren genötigt werden können. An der Sache, den möglicherweise wissenswerten Inhalten, liegt den allermeisten Schülern wenig und diejenigen, die sich aus freien Stücken, also intrinsisch motiviert, mit dem dargebotenen Stoff beschäftigen, werden als Streber diffamiert:

Daran zeigt sich, wie wenig das Lernen hierzulande von den Schülern als ihre eigene Sache angesehen wird, sondern immer noch als eine im Grunde fremde, von außen kommende Anforderung.

Im zweiten Teil widmet sich Reinhard Kahl der rückständigen Fehlerkultur im Schulwesen.

In dieser lernfeindlichen Konstellation interessieren sich Lehrer besonders für die Fehler der Schüler. Aber nicht, damit diese daraus lernen, sondern um sie ihnen anzukreiden. Warum? Am Verhältnis zum Fehler wird der geistige Zustand einer Institution deutlich. Wie hält man es mit der Unvollkommenheit der Menschen und mit ihrer sich daraus ergebenden Verschiedenheit? Am Verhältnis zum Fehler wird auch deutlich, wo ein Wandel zu einer menschenfreundlicheren Haltung in unsere Gesellschaft in Gang gekommen ist. Man kann diese große Veränderung manchmal am besten an kleinen Unterschieden in der Betonung erkennen.

Das mag in manchen Ohren utopisch klingen, entspringt aber der grundlegenden Einsicht in den Umstand, daß die bloße Kopie des Perfekten, des Richtigen doch nur stupide Wiederholung ist. Aneignung von wirklich Wißbarem kann nur geschehen, wenn dies auf individuelle, potentiell fehlerhafte Weise geschehen darf. Freilich geht es nicht darum, daß zu jeder Zeit sämtliche Dumm- und Torheiten wiederholt und gelobt werden; es geht also nicht darum, „dumme“ Fehler zu machen, sondern vorwiegend „intelligente“ Fehler, für die man Strategien entwickelt, sie zu identifizieren und sie in Lernfortschritte umzumünzen. Das setzte freilich einen Paradigmenwechsel voraus:

Der Fehler gilt nicht mehr als Sünde, sondern als Vorsprung im Lernprozess. Am Fehlversuch geben sich Grenzgänger zu erkennen. Wer Neuland betritt, macht Fehler, unweigerlich. Das ist die Quintessenz lernender Organisationen: Der Fehler ist das Salz des Lernens, ja, des Lebens.

Wie gesagt: der Artikel von Reinhard Kahl sei allen bildungsinteressierten Zeitgenossen empfohlen. Und es wird wieder deutlich, daß es oftmals die Querdenker sind, diejenigen, die provozieren und irritieren, die den Anstoß für Erneuerung geben können.

 

 


»3. Nicht erst anläßlich der positiven A-Probe von T-Mobile-Fahrer Patrik Sinkewitz hat die „Berliner Zeitung“ ihre Berichterstattung zur diesjährigen „Tour de France“ umgestellt. Bereits seit dem ersten Tourtag begleitet der versierte Sportjournalist Christian Schwager das Geschehen und resümiert täglich die Vorkommnisse in einem stets lesenswerten Essay. Allerdings sind es nicht die Dramen in der sengenden Hitze, die Ausreißversuche und Aufholjagden, die Schwager interessieren. Er beteiligt sich nicht am Stricken der großen Heldenepen.

Freilich gehört nach all den Dopingbeichten und der beinahe gekippten Stimmung unter den Sportfans weniger Mut dazu, sich dem allgemeinen Jubel über die radelnden Ausnahmekönner nicht anzuschließen. Dennoch gebührt der Berliner Zeitung Applaus dafür, daß sie von Schwager täglich die Schattenseiten des finanziell lukrativen und ganz offensichtlich noch längst nicht manipulationsfreien Radzirkus beleuchten lässt.

Christian Schwager stellt die richtigen Fragen und läßt sich von den Antworten der Pressechefs der Rennställe nicht an der Nase herumführen. Und so erfährt der interessierte Leser bspw., daß der derzeitige Zweitplazierte Contador den gestrigen Anstieg zum „Plateau de Beille“ immerhin 1 1/2 Minuten schneller bewältigte als seinerzeit Lance Armstrong. Diese Information mag jeder Sportfan für sich selbst interpretieren.

Lesenswert:

 

 

 


»4. Ebenfalls dem Konsum von Drogen und Aufputschmitteln, ebenfalls Heldengeschichten widmet sich Christoph Koch in der ZEIT. Doch geht es in seiner Dopingliste zur Abwechslung nicht um Sport. Künstler, Politiker, Musiker, Philosophen… unzählige Personen, mit deren Werk und Wirken große Leistungen verknüpft sind, hatten auch ihr jeweiliges Drogen- und Inspirationsproblem.

Koch listet 50 Personen auf, deren literarische, künstlerische oder politische Leistung uns heute noch ein Begriff ist, die sich aber entweder bewußt berauschten oder ihr Werk im Rausch nicht mehr weiterführen konnten. Klar, daß hier Ernst Jünger, der mit dem LSD-Entdecker Albert Hoffmann, die Wirkung des Halluzinogens testete, nicht fehlen darf. Die Popularität des kokainhaltigen Getränks „Vin Mariani“ (Henrik Ibsen, Thomas A. Edison, Jules Verne, Alexandre Dumas) war mir allerdings zuvor unbekannt.

Hier gilt wohl der abschließende Rat: nachlesen ja, nachmachen eher nein.

 

 

  1. Wie nachzulesen ist, hat sich Jan Ullrich während der heutigen SAT1-Tour-Übertragung per Telefon live ins Studio schalten lassen, und dort eine Paradevorstellung in Sachen naives Unschuldslamm gegeben. Das Gespräch ist hier bei Stefan Niggemeier dokumentiert. Und die Dopingdebatten gleichen ohnehin – wie Ullrich wußte – eher einer Hysterie und sind maßlos übertrieben. Er muß es ja wissen. []

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