Das Sommerlochthema dieses Jahres läßt ganz offenbar noch ein wenig auf sich warten. Ob es daran liegt, daß die Diskussion um die Zukunft des Spitzensports so einen prominenten Raum einnimmt?1 Denn sobald nur wenige brisante tagesaktuelle und politische Themen verfügbar sind, läßt sich mit bewundernswerter Zuverlässigkeit irgendein Radprofi zu einem überfälligen Geständnis überreden oder appliziert sich zumindest in einem Akt intuitiver-spontaner Tolldreistigkeit Testosterongel, um kurz darauf mit erstaunlichen Blutwerten aufzufallen…2
Egal: während sich manch andere Bloggerkollegen in den wohlverdienten Urlaub verabschiedet haben, ist in der Wissenswerkstatt viel zu viel Arbeit liegengeblieben und die fröhliche Fahrt in die Sommerfrische muß zumindest dieses Jahr wohl ausfallen. Dafür wird in den nächsten Wochen wieder einmal das Münchner Independent-Sommerprogramm für Daheimgebliebene genutzt: das Theatron-Musikfestival ist hier eine wunderbare Anlaufstelle und ich hoffe inständig auf einen wirklich sommerlichen August und nicht eine meteorologische Großwetterlage, die sich eher nach Spätherbst anfühlt. Zumal die Theatron-Feuerwerke am Olympiasee zu den jährlichen Highlights zählen. Und dafür ist ein schöner Sommerabend unabdingbar.
»1. Die Wartezeit bis zu den Konzerten und zu den Ende August stattfindenden Leichtathletik-Weltmeisterschaften in Osaka wird u.a. mit allerlei Geburtstagsfeierlichkeiten überbrückt. Darunter befinden sich erstaunlich viele Menschen, die ihr 30. Wiegenfest begehen. Und da ich dieses Datum bereits einige Zeit hinter mir habe, betätige ich mich seitdem als fürsorglich-mahnender Freund, wenn dieses Datum bei mir bekannten Menschen näherrückt.
Denn obwohl mir persönlich die alljährlich wiederkehrenden Beglückwünschungsrituale eher ein willkommener Anlaß sind, um alte Zeit- und Weggenossen zu sehen und mit Ihnen zu tratschen und ich demzufolge Geburtstage nicht als lästige Erinnerung, als unerfreulich-mahnendes "Memento mori" empfinde, ist der 30. Geburtstag nicht zu unterschätzen. Mag sein, daß dieser Tag vornehmlich in Akademikerkreisen eine Zeitenwende darstellt, aber selbst ich war erstaunt, an diesem Tag von allen Seiten seltsame Nachfragen zu erhalten, was denn dieses Datum nun für mich bedeute. Man sollte darauf vorbereitet sein und möglicherweise dieses Interview mit Nick Hornby lesen; dort erzählt der Kenner der Jugendkultur, daß seine Party zu seinem 40. Geburtstag sehr erfreulich verlief und verspricht, daß das Leben insgesamt durchaus besser werde. Aber er antwortete auch folgendes:
ZEIT: Sie sind Jahrgang 1957, Ihr 50. Geburtstag rückt näher. Haben Sie Angst davor?
Hornby: Nein. Nichts kann schlimmer sein, als 30 zu werden.
Dem ist wenig hinzuzufügen. ;-)
»2. An verschiedenen Stellen habe ich bereits auf den Blog "Strenge Jacke!" von Daniel Lüdecke hingewiesen, der auch immer wieder lohnende Einblicke bezüglich des Fortschritts seiner Doktorarbeit gibt. Daniel hat schon vor einiger Zeit ein kleines Softwaretool programmiert, das den Zettelkasten Niklas Luhmanns ins digitale Zeitalter überträgt. Nun stellt ganz aktuell Nerone auf seinem Blog die Frage, auf welche Weise die Inhalte, Texte und Gedanken des Zettelkastens am besten strukturiert und in (wissenschaftliche) Texte transformiert werden könnten:
Wie arbeite ich im und am Zettelkasten, ist für mich als Wissenschaftslaien nach wie vor die große Frage. Gebe ich die Ideen für Texte dort ein? Wenn ich einen Text angehe, der zwar die Richtung kennt, aber noch nicht seine Elemente, beginne ich meist (direkt im Editor, wenn ich Blogge) in der Textverarbeitung, oder in meinem Notizbuch, für Unterwegs. Notizen werden in Textdateien erfasst und dabei schon redigiert. Innerhalb der Textdatei wird strukturiert. Auf ein zweites Gedächtnis a la Luhmann würde ich gerne zurückgreifen, da ich eher assoziativ arbeite.
Wie also arbeitet man mit dem Zettelkasten? Bei Nerone erläutert Daniel seine Intention und seine Arbeitsweise:
(…) Und so streng ist die Form des Zettelkastens auch nicht, im Gegenteil. Gerade durch das Abstrahieren vom Kategorienschema hast du sehr lose Verbindungen und Vernetzungen, die im Prinzip jedesmal anders ausfallen, wenn du mit dem Zettelkasten arbeitest. Man muss sich einfach klarmachen, dass jeder Text immer wieder anders geschrieben wird, wenn man ihn nochmal schreibt. Also braucht man auch keine Angst haben, den entscheidenden Zettel verpasst zu haben.
Und in den Kommentaren sind weitere interessante Erfahrungsberichte zu lesen; ein Kommentator weiß folgendes:
Sprich, ich nutze ihn primär als "zweites Gedächtnis". Richtig spannend wird der Zettelkasten aber erst durch die Möglichkeit der Verknüpfungen. Wenn er eine bestimmte Größe erreicht hat, ergeben sich so Zusammenhänge, Verbindungen bzw. Möglichkeiten wie man etwas zusammen denken kann, die ich vorher nicht gesehen habe – und hier liegt dann meines Erachtens der wirkliche Mehrwert des Zettelkastens gegenüber einer reinen Zitate- oder Notizensammlung.
Vielleicht ist ja der eine oder andere Hinweis auch für meine Mitleser interessant.
»3. Nun ein ganz scharfer Themenwechsel zur vermeintlich leichten Unterhaltung: den Versuch den Sommerhit 2007 zu küren, haben die für ihren erlauchten Musikgeschmack allseits bekannten "Stagediven" gestartet. An dieser Stelle ist es möglich, sich erstens einige Musikvideos anzusehen oder zumindest eine MP3 herunterzuladen und zweitens für die jeweiligen Künstler abzustimmen. Im Moment liegen Tocotronic mit "Kapitulation" ganz gut im Rennen, an der Spitze positioniert sich derzeit allerdings "Maximo Park" mit "Books from boxes". Die Abstimmung läuft noch knapp zwei Wochen und es dürfte sich in der Rangfolge sicher noch einiges verändern…
»4. Ebenfalls zum Anhören, allerdings weniger rhythmisch und melodiös ist das folgende Fundstück: über diesen Beitrag der ReadersEdition bin ich auf das Podcast-Angebot der Universität Freiburg gestoßen. Dort wird jeden Monat eine Vorlesung oder ein Festvortrag aus dem Uniarchiv online gestellt. Bisherige Highlights sind unter anderem:
- Karl Lehmann: Die lateinische Denkform und die katholische Theologie der Zukunft. 1972.
- Gerhart Baumann: Paul Celan: Um-Wege zu sich und die offene Frage des Gedichts. 1971
- Max Müller: Vollendung, Ende und Anfang – philosophische Reflexion im Hinblick auf Martin Heidegger. 1970.
- Bernhard Welte: Determination und Freiheit. 1969.
Wie man sieht, handelt es sich bislang vorrangig um Beiträge und Reden aus den 60er und 70er Jahren. Die Themen sind allerdings immer noch aktuell oder die Vorträge sind als Zeitdokument einzuordnen (so bspw. der Mitschnitt der Vorlesung von Kardinal Karl Lehmann). Im Juli stand übrigens der Festvortrag von Martin Heidegger zum Download bereit, den Heidegger 1957 anläßlich des 500-Jahr-Jubiläums der Uni Freiburg gehalten hatte. Diesen Vortrag unter dem Titel: "Der Satz der Identität" kannte ich freilich schon, er ist aber – genauso wie viele andere Audiodateien des Angebots – sehr hörenswert. Und diese Podcast-/Vortragsreihe sei unbedingt anderen Universitäten zur Nachahmung empfohlen. Es sollten doch sicherlich weitere Schätze in den Schallarchiven schlummern, oder?
»5. Lesenswert und zur Vorsicht gemahnend sind die beiden Beiträge, die gestern von Stefan Niggemeier gepostet wurden. Niggemeier, seines Zeichens versierter Medienjournalist und seit einiger Zeit engagierter Kritiker verschiedener Fernseh-Anruf-Game-Shows mit möglicherweise fragwürdigen Geschäftspraktiken, zieht nach der Niederlage von Marc Doehler3 ein vorläufiges Resümee zum vorliegenden Sachverhalt:
Die Firma Callactive, die im Auftrag von MTV Anrufsendungen produziert, in denen immer wieder erstaunliche Unregelmäßigkeiten zu beobachten sind, die gegen einen fairen Ablauf sprechen, hat heute vor dem Oberlandesgericht München einen vernichtenden Sieg gegen das Forum call-in-tv.de und, wie ich sagen würde: die Meinungsfreiheit und den Verbraucherschutz errungen. Es darf die vielen (vielen, vielen!) Menschen, die täglich bei Callactive in die Sendung durchgestellt werden und erhebliche Geldsummen gewinnen könnten, aber völlig abwegige Antworten geben oder gleich wieder auflegen, de facto nicht mehr als „verwirrte Anrufer” bezeichnen (…)
Hintergrund für diese gerichtliche Auseinandersetzung ist, daß seitens der Kritiker der Verdacht laut wurde, daß es sich bei einigen der ins Studio durchgestellten Anrufer nicht um "echte", sondern um sog. "Fake-Anrufer" gehandelt haben könnte. Nachdem diese Unterstellung bereits untersagt wurde, wurde nun vom OLG München auch die Redeweise von "verwirrten Anrufern" verboten. Eine Prüfung der Vorwürfe selbst, ob also hier gezielt Anrufer in der Leitung vertröstet werden, während andere – vermeintlich "gefakte" – Anrufer haarsträubend naive und falsche Antworten geben, wurde leider nicht vorgenommen. Dies wäre freilich anhand einer Durchsicht der Telefonverbindungsprotokolle möglich. Die Fa. Callactive behaupet – wie nachzulesen ist – zwar, daß sie die Rechtmäßigkeit ihres Vorgehens und nämlich die Anrufe belegen könne, blieb diesen Nachweis bislang aber schuldig. Niggemeier bilanziert resigniert:4
Warum sollte sie es auch tun, wenn das Geschäft gut läuft, man diese unfassbare Glückssträhne hat, was die durchgestellten Anrufer mit falschen Antworten angeht, eine Medienaufsicht nicht existiert und man Kritiker und Mahner mithilfe von Gerichten zum Schweigen bringen kann?
Außerdem berichtet Niggemeier heute, daß er selbst zunächst eine Abmahnung und dann zugleich eine "Einstweilige Verfügung" erhalten habe, da in seinem Blog zwei Kommentare die Geschäftspraktiken der Fa. Callactive über das vermeintlich zulässige Maß in Mißkredit gezogen hatten. Das LG Hamburg, deren Pressekammer auch für das sog. Urteil zur Forenhaftung verantwortlich zeichnet, hat die "Einstweilige Verfügung" erlassen und Niggemeier stellt konsterniert fest:5
Das Ergebnis ist für mich natürlich frustrierend. Es scheint mir, wie einige andere Entscheidungen, darauf hinauszulaufen, dass die deutschen Gerichte eine offene Debatte über zweifelhafte Geschäftspraktiken für gefährlicher halten als die Geschäftspraktiken selbst.
»6. Abschließend zu etwas erfreulicherem: der Musikkenner und Radsportfan Heinz Gelking hat vor wenigen Tagen folgendes überaus amüsant-nostalgische Fundstück präsentiert – in seinem audiophilen Blog "Platte11" verweist er unter der Überschrift "Dein Funkberater will dich lehren…" auf diese einzigartige Radio-Bedienungsfibel aus dem Jahr 1958. Bei der Reparatur eines "Telefunken Operette 8" fand ein Radiotechniker das Prachtstück, das wie aus einer vollkommen anderen Zeit anmutet. Wo einem heute die kryptischen Bedienungsanleitungen in mindestens zehnsprachiger Übersetzung und winziger Schriftgröße entgegenflattern, wurde man noch vor 50 Jahren mit liebevoll illustrierten Heften beglückt. Und der stolze Neubesitzer eines solchen Röhrenradios6 wurde auf dem Deckblatt bereits mit den folgenden kaum übertrefflichen Sätzen angesprochen:
"O Jünger der erquicklichen Kunst, ein Kaleidoskop von Klängen aus dem Äther zu angeln, nimm sie hin, die neue Zaubertruhe. Dein Funkberater will Dich lehren, wie man mit ihr umgeht, auf daß aus Dir ein wahrer Meisterhörer werde. …"
Ich wünsche mir nun eine Fee und mindestens drei Wünsche: zunächst wäre mir mit einer Justiz geholfen, die das Recht auf Meinungs- und Äußerungsfreiheit nicht als notwendiges Übel, sondern als selbst schützenswertes demokratisches Grundprinzip erachtet. Und mit dem zweiten Wunsch trete ich eine Zeitreise in die 50er Jahre solch wunderbarer Bedienungsfibeln an oder wünsche mir alternativ ähnlich bemüht-liebevolle Bedienungsanleitungskreativlinge in die Jetztzeit herbei. Und der dritte Wunsch sei nicht verraten. ;-)
- An dieser Stelle widmet sich Lisa eingehend dem Problem der manipulativen Leistungssteigerung. [↩]
- Und wenn dann eine Beichte vorliegt, dann wirft das sofort wieder Folgeprobleme und Kritik auf. Und dann wird auch noch das BKA aktiv… [↩]
- Doehler betreibt den kritischen Watchblog "call-in-tv", der sich den teilweise irritierenden Praktiken der nächtlichen Game- und Rateshows widmet, die Anrufer zu kostspieligen Anrufen animieren. Die sog. Moderatorinnen dürfen freilich nach gültiger Rechtssprechung nicht als "Animösen" bezeichnet werden. Daran ändert auch jedes noch so feinsinnige linguistische Gutachten nichts. Abgesehen von gewiß manchmal recht derb-sexistischen Angriffen auf die Damen, die hier provokativ-aufreizend auf Anruferfang sind, ist das Engagement von Doehler und Co. aber gewiß dringend notwendig. [↩]
- Auf Niggemeiers Seite sind viele auffällige Indizien zu den erwähnten Sendungen dargestellt. Auch an diesen Stellen [hier und hier] wird das Thema behandelt und kommentiert. [↩]
- Ich bitte aus diesem Grund vor möglicherweise beleidigenden Kommentaren im Bezug auf die Fa. Callactive abzusehen! Schließlich ist – zwar in anderem Zusammenhang, nämlich in Bezug auf eine Persönlichkeitsrechtsverletzung des einstigen Boxers Karl Heinz Schwensen – derzeit wieder eine Abmahnwelle durch die Blogosphäre unterwegs. Wer es noch nicht mitbekommen hat: nachzulesen hier und hier. [↩]
- immerhin hatte er sich ja für ein Telefunken Operette 8 entschieden. ;-) [↩]
4 Gedanken zu „Querverweise » Fundstücke, Lesenswertes & Links – 06“