Wer heutzutage auf die beachtenswerten Musikexporte aus Kanada zu sprechen kommt und sich gar als ihr Sympathisant offenbart, riskiert nicht viel. Wenn das Gegenüber ein Mindestmaß an Musikalität und Rhythmusgefühl im Leib hat, so wird man meist Kopfnicken und Zustimmung ernten. Aber noch bevor man dem Independent-Small-Talk einen zweiten, präzisierenden Satz hinzufügen kann, wird der Gesprächspartner einem voreilig ins Wort fallen und bestätigen, daß die Hidden Cameras ja schlicht großartig seien und der zunehmende Erfolg von Arcade Fire schon längst gerechtfertigt.
Es sei schon unheimlich, mit welchen Synergieeffekten sich diese Bands aus Montreal oder Toronto1 gegenseitig kreativ befruchteten und überhaupt, diese verrückten Neo-Folk-Bands, die gleich als ganze Musikerkommune auf der Bühne den Rock’n’Roll zum Leben erweckten, die müsse man live erleben. Genau diesen Moment, diese Redepause muß man abwarten, um freundlich lächelnd aber bestimmt einzuwenden, daß dies alles zutreffe, man selbst aber von Owen Pallett rede. Vermutlich wird man in ein verwundertes, sprachloses Gesicht blicken. Man hat also zumindest so viel Zeit gewonnen, um anzufügen, daß der inzwischen 27-jährige Kanadier Owen Pallett ursprünglich eine klassische Ausbildung als Violinist genossen habe. Das Stirnrunzeln wird sich verstärken und man hat noch Gelegenheit, um anzumerken, daß Palletts Soloprojekt unter dem Namen „Final Fantasy“ firmiere. Und vielleicht wird man in genau dieser Sekunde in ein erleichtert-erfreutes Gesicht blicken, denn wer wenigstens einmal einige Songs von „Final Fantasy“ gehört oder Owen Pallett gar live erlebt hat, der wird sich an ihn erinnern.2
Es ist einfach Rockmusik
Denn, soviel sei sogleich noch verraten: die musikalischen Kabinett- und Zauberstückchen, die Owen Pallett unter dem Etikett „Final Fantasy“ in die Klangarchive einspeist, zählen zum erfreulichsten, was die internationale Musikszene der letzten 10 Jahre hervorgebracht hat. Wer einige Stücke der bislang zwei Alben hört, wird sich vermutlich nach einer kurzen Zeit dabei ertappen, wie er einzelne Melodiebögen, gleichviel ob gesungen oder kraftvoll mit der Geige eingespielt, mitsummt. Und obwohl die Instrumentierung vordergründig diejenige eines kleinen pop-klassischen Kammerorchesters ist, ist eines unmißverständlich: es ist originäre, authentische Rockmusik. Und die komplexen rhythmischen Strukturen sind häufig schon eher an den Traditionen des Postrock orientiert. Allerdings: wer glaubt, beim Anhören des im Februar 2005 veröffentlichten Debütalbums „Has a good home“ tatsächlich 3-4 Musiker mit Violine, Cello, Klavier und Percussion zu hören, der irrt: die verschiedenen, teilweise übereinandergelagerten Gesangstimmen, einmal sanft-charmierend, dann wieder rätselhaft, aus der Ferne schreiend, gehören genauso diesem schlaksigen Jungen aus Toronto, wie er auch selbst all die Streichinstrumente einspielt.
Nun gut, möchte man meinen, ein weiterer Multi-Instrumentalist, der exzessiv die Möglichkeiten moderner Musikproduktion ausnutzt und nach mehr klingt, als er ist. Aber selten wäre der Vorwurf des „Mehr Schein, als Sein“ deplatzierter. Denn Owen Pallett ist ein ursprüngliches musikalisches Wunderkind, auf das man in der Sphäre des Indierocks lange gewartet hat. Er ist eigenwillig genug, um sich nicht auf konventionelle Arrangements einzulassen, die nur das Erwartbare liefern und somit alsbald langweilen. Aber er ist auch souverän genug, um immer wieder zu überraschen und zu irritieren. Seine Größe liegt aber just darin, daß er seine Virtuosität nicht dadurch unter Beweis stellen muß, daß er sich in abseitig-selbstgefällige Nischen flüchtet und seine Musik hermetisch-unzugänglich machte. Nein, seine Meisterschaft besteht schlicht in den berückend schönen Kompositionen, die er ein ums andere Mal ganz beiläufig hervorzaubert. Seine Lieder oszillieren zwischen Trauer und Wut, Liebe und Tod, zwischen Weltschmerz und seliger Daseinsbejahung. Und genau dies findet seine Entsprechung in den teilweise perlend-blubbernden, dann wieder dynamisch-energetischen Grenzwanderungen zwischen Kammermusik, Rock, Pop und zarter Elektronik. Und genau diese Pallettsche Mixtur und Handschrift ist einzigartig.
Nicht umsonst wurden etwa die Geigenarrangements auf dem vielumjubelten Arcade-Fire-Debütalbum „Funeral“ gelobt – sie stammen, kaum verwunderlich, von Owen Pallett, der das Kollektiv um Win Butler und Régine Chassagne auch live auf Tour begleitete.3 Und wer die kanadische Indie-Szene kennt, der ist auch nicht verwundert, daß Owen auch mit den Hidden Cameras unterwegs war.4 Und obwohl Pallett also ganz eng mit diesen immer populärer werdenden Popfolkkollektiven verwoben ist, ist es doch fraglich, ob die „New York Times“ mit ihrer Einschätzung Recht hatte, daß es sich bei Owen um „The World’s Most Popular Gay Postmodern Harpsichord Nerd“ handelt. Denn dem obsessiven Starrummel kann er ganz offensichtlich wenig abgewinnen. Mit der folgenden Einschätzung liegt die NYT allerdings zweifellos richtig:
„In Final Fantasy you hear how Mr. Pallett’s art is born of contrast, not only between pop and contemporary composition, but between the organic and the electronic, the fantastical and the domestic, the abrasive and the sweet. A perfectionist who adores the rough-hewn, he is at once hopelessly nerdy and improbably cool.“
All diejenigen, die bislang nichts von „Final Fantasy“ gehört haben, sollten dies also schleunigst nachholen. Denn bei den beiden bisherigen Alben – im Mai 2006 war das energisch-melancholische „He Poos Clouds“ erschienen5 – handelt es sich um absolut einzigartige zeitgenössische Meisterwerke. Und dies von einem jungen Mann, dessen Begeisterung für Video- und Computerspiele genauso groß ist, wie für klassische Musik und der demzufolge bereits als 21-jähriger zwei Opern komponierte.6 Nicht unbedingt die übliche Sozialisation, wie sie für gewöhnlich Rockmusiker durchlaufen und so könnte man skeptisch sein, ob das bisher beschriebene auch live auf der Bühne funktioniert.
Was sich mit Geige, Stimme und Loops alles machen läßt: Meisterhafte Klangarchitekturen
Aber halt: wurde nicht gesagt, daß Pallett alle Parts seiner Popstücke selbst im Studio einspielt? Gibt es dann „Final Fantasy“ überhaupt als Live-Performance? Wer bislang skeptisch ist und noch keines der unten angeführten MP3-Appetitstückchen angehört hat, dem sei zunächst verziehen.7 Denn der Kauf der beiden Platten ist zwar wärmstens empfohlen und sei jedem Independentfreund ans Herz gelegt, der Besuch von „Final Fantasy“-Konzerten ist allerdings nichts weniger als eine Pflicht. Wer es verabsäumt, Owen Pallett beim musizieren zuzusehen, wird es spätestens dann bereuen, wenn ihm seine Freunde von einem popmusikalischen Ereignis allerersten Ranges berichten. Denn der ganze Reichtum, die fein ausgeklügelten Arrangements, die vielschichtigen Kaskaden des Final-Fantasy-Universums erschließen sich erst, wenn man deren Erzeugung mit eigenen Augen gesehen, mit eigenen Ohren gehört hat.
Es ist wohl kein Auftritt Palletts vorstellbar, bei dem die Anwesenden nicht nach spätestens fünf Minuten mit offenen Mündern und voller Verzückung dem Geschehen auf der Bühne folgen: dort steht Pallett ganz allein am Mikro, seine Violine in der Hand und mit den nackten Füßen bedient er den zwischengeschalteten Sampler und das Loop-Pedal, mit dessen Hilfe er Schicht um Schicht seiner kleinen musikalischen Zauberstücke auftürmt. Es beginnt meist recht unscheinbar damit, daß ein erster Melodiebogen erklingt, Owen betätigt die Pedale am Boden und während er nahtlos eine zweite Stimme oder ein rhythmisches Zupfen oder Picking anschließt, bildet die Eingangssequenz im Hintergrund den Klangteppich, der als Loop reproduziert wird. Dann mag möglicherweise eine Gesangspassage folgen, die eventuell ebenfalls aufgezeichnet und später, per Pedal wieder zugeschaltet wird. Auf diese Weise, also durch das sukzessive Aufschichten, Auftürmen von immer weiteren Sequenzen, erzeugt Owen Pallett vor den Augen seines begeisterten Publikums erstaunlich komplexe Musikstücke.
Es ist nichts weniger als eine einzigartige Zauberkunst, die dort zelebriert wird. Unter Zuhilfenahme bescheidener technischer Hilfsmittel legt Pallett über das eben Gehörte weitere Klangbausteine und so wird das fein gesponnene Kalkül, das den einzelnen Songs zugrunde liegt, mehr und mehr sicht- und hörbar. Und je weiter das Konzert andauert, umso deutlicher wird, daß hier ein Überzeugungstäter am Werk ist, der gar nicht anders kann, als eben auf diese einzigartige Weise zu musizieren. Wenn er seine Geige mit Finger und Geigenbogen bearbeitet, sie mit der flachen Hand anschlägt, um gewaltige dröhnende Beats zu erzeugen, wenn er ekstatisch in das kleine in der Geige eingebaute Mikrofon schreit, um seiner Klangarchitektur ein weiteres Mosaiksteinchen hinzuzufügen, so zeigt sich, daß Owen Pallett hier die ihm gemäße Form des Ausdrucks gefunden hat.
Welch ein Glück also, daß damals vor einigen Jahren der ebenfalls für seinen melancholischen Weltschmerz bekannte Patrick Wolf seinen Freund Owen Pallett fragte, ob dieser nicht im Vorprogramm seines Auftritts in Toronto spielen wolle.8 Und welch Glück, daß Pallett die Gelegenheit wahrnahm. Er hat seine Fans bislang mit zwei zauberhaften Alben beschenkt und im Frühjahr 2008, so verlautbarte er unlängst, steht die Veröffentlichung eines neuen Werks an. „Heartland“ soll es betitelt sein. Und man darf, nein: man muß mehr als gespannt sein.
Linktipps:
- You ain’t no picasso: Interview mit Owen, 18. April 2006
- Butt-magazine: Interview mit Owen Pallett – „Singing violinist from Canada…“
- Wilson, Carl (2005): The World’s Most Popular Gay Postmodern Harpsichord Nerd, The New York Times, 11. 12.2005
Plattentipps:
- Final Fantasy (2006): He Poos Clouds. Tomlab.
- Final Fantasy (2005): Has a good home. Tomlab.
- Arcade Fire (2007): Neon Bible.
- Arcade Fire (2004): Funeral.
- The Hidden Cameras (2006): Awoo.
- The Hidden Cameras (2004): Mississauga Goddam.
- Patrick Wolf (2007): The Magic Position.
MP3-Downloads:
- Final Fantasy: Please please please
- Final Fantasy: The CN Tower belongs to the dead
Und abschließend ein kleiner Eindruck von „Final Fantasy“ live – unbedingt ansehen:
- Derzeit widmet sich der Poplog ganz intensiv den kanadischen Bands, ob „Final Fantasy“ auch gewürdigt wird? Nachzulesen hier. [↩]
- Und in der Blogosphäre finden sich dann u.a. auch einige begeisterte Konzertberichte. [↩]
- Und ganz folgerichtig widmete er den beiden auf seinem ersten Album auch einen Song. „This is the dream of Win and Régine“ ist dieser benannt und das Video kann hier bei der Popcornmaschine angesehen werden. [↩]
- Und wenn die Hidden Cameras immer wieder als Musterbeispiel für ein sog. Queerband herhalten müssen, die also die Homosexualität ihrer Mitglieder auch als Quelle ihrer Inspiration bezeichnen, so kann Pallett als ihr solokünstlerisches Gegenstück gelten. Auch er betont auf Nachfrage durchaus, daß er seine Sexualität als künstlerisch bereichernd empfindet. [↩]
- Hier finden sich nun auch noch dezent eingestreute Knabenchöre oder vermehrt Pianoläufe und insgesamt ist das Album etwas orchestraler arrangagiert; am Grundprinzip, der inhärenten Logik, die stark mit Kontrasten und Brüchen arbeitet, die aber niemals die Songstruktur zu disparat erscheinen lassen, ändert sich nichts. Pallett spinnt auf wundersame Weise ein Netz, das die verschiedenen Teile seiner Songs zusammenhält. Und nicht umsonst erhielt er für „He poos clouds“ den renommierten „Polaris Music Prize„, der einmal jährlich von kanadischen Musikjournalisten, unabhängig von Genres, an das beste kanadische Album vergeben wird. [↩]
- Der Sohn zweier Kirchenmusiker studierte klassiche Komposition in Toronto und eine seiner beiden Opernkompositionen – „Ionesco’s Foursome“ – stieß auch durchaus auf Gehör: sie wurde sogar einmal im kanadischen Fernsehen aufgeführt. [↩]
- Hier bei „Jackpot Baby! gibt es noch zwei weitere Songs zum Download. Ansonsten aber lohnt es sich die ganzen Alben sein Eigen zu nennen… [↩]
- Patrick Wolf selbst stammt ausnahmsweise nicht aus Kanada, sondern aus London. Er lernte Owen über die Hidden Cameras kennen, bei denen er ebenfalls Gastmusiker war. [↩]
6 Gedanken zu „Final Fantasy » Die Klangzaubereien des Owen Pallett“
Oh, die Hidden Cameras und Arcade Fire wurden mir schon beim Indie Feed Alternative Modern Rock nahe gebracht.
Da werde ich mir doch gleich mal Owen Pallet näher ansehen.
Großartiger Tipp. Ich war sehr fasziniert, als ich FF überraschend im Vorprogramm von Arcade Fire erleben durfte. In diesem Jahr gibt es leider weder FF noch Arcade Fire live in Hamburg.
Erst seit einem Monat weiss ich von der Existenz Owen Palletts und seiner absolut hinreissenden Klang- und Stimmwelten. Die CD war in unserer Stadt- und Kantonsbibliothek unter den Neuanschaffungen ausgestellt, ich griff zu, und gerade habe ich meine Ausleihfrist verlängert.
Was hier im Artikel über Palletts Schaffen und seine Werke steht ist genau, was ich beim Hören von „Heartland“ empfand. Zauberhafte Komposition, Welten des Hier und Dort, Oben und Unten, Tiefen und Höhen, Klangsphären, wie ich sie liebe.
Schade ist seine Oper „Ionesco’s Foursome“ nicht aufgezeichnet worden…
Ein Musikschaffender, an dem man dranbleiben muss.