Elektropop mit Herz » „My first trumpet“ bezaubert mit „FRERK“

Es ist nicht leicht, Musik zu machen. Und so gelingt es – hierzulande und anderswo – nur wenigen. Meist ist es Serienware nach Schema F, die einem aus den Hitradios entgegenblubbert. Nirgendwo sonst ist die Herrschaft der Mittelmäßigkeit offensichtlicher. Man wäre ja schon dankbar, wenn einem nicht stets erwartbar-monotone Hausmannskost präsentiert würde. Aber die Geringschätzung des Hörers scheint ein Einstellungskriterium für hiesige Musikredakteure zu sein. Aber gibt es überhaupt Alternativen? Wo soll man anfangen zu suchen?

Wenn es beispielsweise um zeitgenössischen Elektropop geht, so haben die interessantesten Produktionen allzu häufig ihren Ursprung im fernen Island oder eben in der oberbayerischen Indiehauptstadt Weilheim. „Tertium non datur“ – so könnte man bisweilen meinen. Wer freilich den Blick auf diese Orte der popmusikalischen Landkarte fokussiert, der verpasst möglicherweise spannende Entwicklungen, die an anderen Orten stattfinden. Denn nun bringt sich wieder einmal Hamburg als Keimzelle kreativer Musikprojekte in Erinnerung. Und das Schöne dabei: es handelt sich nicht um die etablierten Namen wie die mittlerweile abgetretenen „Blumfeld„, die swingenden Politlyriker „Die Sterne“ oder die Schule rund um das Indielabel „Grand Hotel van Cleef„. Denn es geht ja eben nicht um Gitarrenrock mit schlauen Texten. Daß der Künstler, der mit seinem neuesten Projekt für Aufsehen und Begeisterung sorgt, dennoch genau in der Gitarrenrocknische sozialisiert wurde, kommt aber nicht von ungefähr.

Szenenwechsel: Wir schreiben den August des Jahres 2007. Es handelt sich um einen der wenigen sommerlichen Tage und das angekündigte Gewitter entlädt sich glücklicherweise nicht über dem malerischen Chiemsee. Denn am Rande der dortigen Gestade findet eine Hochzeitsfeierlichkeit statt, die aber – abgesehen davon, daß sich zwei junge Menschen im Kreise ihrer Freunde das Versprechen geben, auch in Zukunft füreinander da zu sein – doch durch ihren unkonventionellen Charme besticht.

Kommt an den Tisch unter Pflaumenbäumen1

Das mag daran liegen, daß unter Apfel- und Pflaumenbäumen die bestimmt längste Kaffeetafel der Welt aufgebaut ist und später die sanften Wellen des Chiemsees im Abendsonnenschein die Szenerie umrahmen. Bezeichnend für diese Hochzeitsfeier ist, daß nach Einbruch der Nacht in der Scheune eines alten Bauernhauses der versierte Musikfreak Paul2 die Gäste zum Tanz bittet. Er öffnet sein Schallarchiv und präsentiert dem tanzfreudigen Publikum eine Indie-Perle nach der anderen. Gut, irgendwann wird auch mal ein Zugeständnis gemacht und ein alter „Wir sind Helden“-Song wird aufgelegt, aber abgesehen davon dominiert hochwertige und jedem Charterfolg unverdächtige Musik.

Kevin_Hamann_01a_Foto_TorbenIversen.jpgDas reicht von „Modest Mouse“ bis zu „Locas in Love„. Und dann ertönt gar bester Schrammel-Songwriter-Pop: zu hören ist „ClickClickDecker„. Hinter diesem Etikett verbirgt sich – wie in der Wissenswerkstatt [hier] bereits berichtet wurde – der Ex-Berliner und Wahl-Hamburger Kevin Hamann. Er ist einer derjenigen Zeitgenossen, die zweifellos auf der richtigen Seite stehen und um ihren Gefühlen zwischen Melancholie und Euphorie Ausdruck zu verleihen, nichts weiter als eine Gitarre, ein Mikro und eine Bühne brauchen. Als „ClickClickDecker“ ist Kevin Hamann großartig. Er besticht durch seine unprätentiöse Art des Musizierens, seine desillusionierten Alltags- und Daseinsbeobachtungen und die wunderbaren Texte. Und so fragt er dann schon auch mal: „Wer hat mir auf die Schuhe gekotzt“?

Aufpassen, Gretschmann!

Aber wer glaubt, daß sich Kevin Hamann auf diese Rolle des sympathischen Gitarren-Underdogs festlegen lassen wollte, der irrt. Man hätte seine weiteren Pfade freilich erahnen können, denn zuletzt war er auf Tour mit „Der Tante Renate„. Und die vesucht sich als One-Man-Show im Nachweis, daß Gitarrensound mit Elektrobeats zusammen funktionieren. Genug Möglichkeit also für Kevin Hamann Anschauungsunterricht zu nehmen, wie es so geht mit den elektrisch unterstützten Möglichkeiten der akustischen Daseinsbereicherung. Aber Nachhilfe, so wird nun offenbar, hat Kevin Hamann gar nicht mehr nötig. Unter dem schönen Etikett „My first trumpet“ hat Hamann nun nämlich ein erstes Album veröffentlicht. Es hört auf den Namen „Frerk (aer009)“ und ist nichts weniger als die Entdeckung des Jahres!

Wenn man einer Person, die wohlinformiert und deren Musikgeschmack intakt ist, nur ein paar Takte des Albums vorspielt, so bekommt man genau zweierlei zu hören: „Wow, ich hab schon jetzt einen Ohrwurm“ und „Ist das von „Console„?“ Nicht schlecht getippt möchte man meinen, denn die Nähe zu den Sounds des Elektrogroßmeisters Martin Gretschmann besteht wirklich. Gretschmann ist – das nebenbei – der Typ, der vor vielen Jahren den Kampf mit Tocotronic aufnahm,3 sich hauptsächlich aber in seinen Soloprojekten „Console“ oder „Acid Pauli“ austobt, daneben für das knarzige Blubbern und perlende Wummern bei „13 & God“ oder eben „Notwist“ verantwortlich zeichnet. Mit anderen Worten: Gretschmann ist der ungekrönte König seines Fachs. Wer glaubt, daß tote, berechnende Software nur kalte, nüchterne Klänge produzieren kann, sollte sich Werke von Gretschmann anhören. Er versteht es mit seinen Klangzaubereien beispielsweise goldig-knisternde Stimmung zu verbreiten, dann aber wieder rumpelnd-irritierende Soundcollagen aus dem Ärmel zu schütteln.

Angriff auf den Elektropop-Olymp

Und wer diese Sätze als Loblied auf Martin Gretschmann interpretiert, der hat richtig verstanden. Nur: Kevin Hamann befindet sich in den besseren Songs seines Albums „Frerk (aer009)“ auf einer Augenhöhe mit ihm. Und: wirklich schlechte Lieder gibt es keine. Die insgesamt zwölf Songs sind übrigens auf der Webseite des Netlabels „aerotone“ herunterzuladen.4 Ob es einfach die altruistische Ader von Kevin Hamann ist oder ob er tatsächlich keine Plattenfirma gefunden hat, die die Songs auf eine Silberscheibe presst, ist schwer zu sagen. Allerdings ist diesen zwölf Kabinettstücken weite Verbreitung und viel Applaus zu wünschen.

Im Grunde ist der Selbstauskunft anläßlich der Veröffentlichung wenig hinzuzufügen:

Kevin „ClickClickDecker“ Hamann is showing a slightly different side of his musical life. As „My first trumpet“ he is enjoying a new freedom, not known from his many other projects. Quite hard to put into a certain genre, the album FRERK combines a couple of modern styles, all under the melody tree.

FRERK is a bedroom- and first trial production, never losing its beauty for melodic moments.

Frerk_01a.jpgDie Selbstverständlichkeit mit der ganz beiläufig bezaubernde Melodien aus den Lautsprechern perlen ist freilich beachtenswert. Bereits der Opener „Pawlow“ weist in knapp 1 1/2 Minuten den Weg: zarte, dahingestreute Pianoklänge, Orgel- und Synthiefragmente und das alles rein instrumental. Denn die bekannte, meist etwas überstrapaziert-krächzende Stimme von Kevin Hamann wird man auf diesem Album nicht hören. Er konzentriert sich auf das Zusammenfügen feiner Melodieelemente, die in so raffinierter Weise ineinandergreifen, daß man kaum glauben mag, daß es sich hier um ein Erstlingswerk handelt. Unaufdringliche Rhythmen bilden häufig den strukturellen Hintergrund und ab und an kommt auch dezent die Akustikgitarre zum Einsatz. So etwa im schönen „D. Kitt“, das schlicht meisterhaft gebaut ist.

Selten hat man so charmante Songs gehört, die jeweils in sich abwechslungsreich sind, dennoch als Album kohärent und stimmig. Der Ideenreichtum ist faszinierend. Postpop at it’s best. Insgesamt eine Platte, die rundum zu empfehlen ist. Alle, die etwa die Engels- und Sphärenmusik der Isländer „Sigur Rós“ oder „Múm“ schätzen oder der erwähnten Weilheimer Schule zugeneigt sind, werden nicht enttäuscht sein. Aber Achtung: nicht nur Martin Gretschmann sollte auf der Hut sein – die Songs von Kevin Hamann aka. „My first trumpet“ haben ein erhöhtes Suchtpotential: wer sich das Album herunterlädt, läuft Gefahr, daß diese Lieder sein Leben zumindest einige Wochen begleiten. Beschweren darf sich freilich niemand, wenn er vom „My first trumpet“-Virus befallen ist: denn wie heißt eines der schönsten Lieder noch gleich? Genau: „Autonarkose“ – man war also gewarnt!

Update 07/2012: Die Songs sind inzwischen nicht mehr unter den oben angegebenen Links zu erreichen. Die neue Adresse, wo man FRERK anhören kann lautet: myfirsttrumpet.tumblr.com/listentofrerk

 

 


Download:

  • „My first trumpet“ – FRERK – Alle 12 Songs zum Download [hier]
  • Zum Reinschnuppern: „Autonarkose“ [MP3]

 


Linktipps:

  • Blog von ClickClickDecker
  • „My first trumpet“ bei MySpace [hier]
  • Gretschmann, Martin (2006): Ich gründe ein Label, Die ZEIT, 17.7.2006
  • Viele Infos zu „Console“ aka. Martin Gretschmann bei BR-Online

 


Plattentipps:

 


 

 

  1. Dazu forderte schon 1973 der Liedermacher Franz Josef Degenhardt auf. []
  2. Seines Zeichens nicht nur promovierter Chemiker, sondern auch „kritischster Kritiker“, Chronist und Freund der Indiepopband „Tonair„. []
  3. Mit seiner Adaption des Tocotronic-Klassikers Freiburg wußte er – kein Wunder – zu gefallen. Dies lief damals unter dem Titel „Console vs. Tocotronic: Freiburg V. 3.0“ []
  4. Bemerkt wurde dies bislang nur an wenigen Stellen. Die Veröffentlichung ist jetzt zwei Wochen her und mal sehen, ob und wie die Sache Wellen schlägt. ;-) []

6 Gedanken zu „Elektropop mit Herz » „My first trumpet“ bezaubert mit „FRERK““

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