Kennen Sie den Unterschied zwischen der stolzen, bayerischen Landeshauptstadt München und der Universitätsstadt Boulder im US-Bundesstaat Colorado? Nein, keine Sorge, ich lobe hier kein Städtequiz aus und es gibt auch nichts zu gewinnen. Auf die Antwort können auch nur außergewöhnlich gut informierte Zeitgenossen kommen… Und? Gehören Sie dazu?
Gut, dann will ich mal nicht länger um den lauwarmen Brei herumquatschen – der Unterschied besteht u.a. schlicht darin, daß man hier in München auf dem Weg zum Lebensmitteldealer dem Fußballpensionär Mehmet Scholl begegnet, wie er seinen Nachwuchs durch die Straßen trägt; so geschehen am gestrigen Tag, im Mittagssonnenschein und ich habe verpaßt, Mehmet dazu zu gratulieren, daß er bei seinem Abschiedsspiel die Hidden Cameras ins Stadion gebeten hatte.1 In Boulder dagegen wird man, wenn man unvorsichtig ist, von süßen, kleinen Streifenhörnchen angeknabbert. So geschehen vor wenigen Tagen, fragen Sie bei Alex nach. Wer jetzt mäkelt und behauptet, der Unterschied zwischen Mehmet Scholl und einem Streifenhörnchen sei zu vernachlässigen bzw. nicht vorhanden, dem mag ich an dieser Stelle allerdings nicht widersprechen. Oder doch? Genau: das Streifenhörnchen wird definitiv nicht mit den Sportfreunden Stiller auf Tour gehen, soviel steht fest…
Nun aber genug geplaudert, es folgen die Querverweise. Zur Abwechslung mal wirklich einigermaßen kurz und knapp.
»1. Letzte Woche habe ich in den "Querverweisen No.10" auf den Fall des Berliner Soziologen Andrej H. hingewiesen. Der – das der Informationsstand bis dahin – aufgrund überaus vager Verdachtsmomente unter Terrorverdacht festgenommen und inhaftiert wurde. Ihm wurde bislang durch die Staatsanwaltschaft vorgeworfen, daß in Aufsätzen von ihm Schlagworte wie "Gentrification" oder "Prekarisierung" auftauchen, die sich auch in Flugblättern der sog. "militanten gruppe" wiederfänden. Diese mehr als obskure Begründung stieß auf energischen Protest von Intellektuellen weltweit.
Und heute wird ganz aktuell gemeldet, daß Andrej H. unter Kaution vorläufig freigelassen wurde. Andere Wissenschaftler sind aber weiterhin inhaftiert.
Gestern und heute sind aber einige interessante Interviews und Artikel zu diesem Fall erschienen. Gestern war in der ZEIT ein Interview mit H.’s Doktorvater, dem Stadtsoziologen Prof. Hartmut Häußermann, erschienen.
ZEIT online: Läge die Staatsanwaltschaft denn so sehr daneben, wenn sie die Soziologie für eine Wissenschaft links denkender Intellektueller hielte?
Häußermann: Die Soziologie ist eine aufklärerische Wissenschaft. Sie will die herrschenden Verhältnisse kritisieren, Ungleichheiten aufzeigen, und sich für gleiche Lebenschancen und für Fairness einsetzen. Da wird die Soziologie schon auch politisch konkret: Eine Praxis, die nicht der Herstellung von Chancengleichheit dient, sondern die Ungleichheit vergrößert, wird kritisiert. Das betrachten wir als Teil unserer wissenschaftlichen Arbeit. [vgl. Interview: Das Ende der kritischen Wissenschaft]
Freunde und auch der Anwalt von Andrej H. sind freilich erbost, über die fadenscheinigen Begründungen der Staatsanwaltschaft. Ebenfalls in der ZEIT von gestern war folgendes zu lesen:
Dass die Vorwürfe gegen Andrej H. sich kaum rechtfertigen lassen, glaubt auch Stefan König, Berliner Rechtsanwalt und Strafrechtsexperte des Deutschen Anwaltvereins (DAV) . "Aus den Versatzstücken wissenschaftlicher Texte einen Tatverdacht zu konstruieren, halte ich für bedenklich", sagt der Jurist. "Das Vorgehen der Bundesanwaltschaft würde ich in diesem Fall nicht normal nennen." So sei weder die Schwere des Vorwurfs noch die der Haftbedingungen durch die reine Indizienbeweisführung gedeckt. [vgl. Schwentker, Björn: Aufgebauschte Beweise. Die Zeit, 21.8.2007]
Soeben lese ich im Blog der Hamburger Volkskundler, daß Andrej H. vorläufig freigelassen wurde.2 Dort sind auch zwei taz-Artikel verlinkt. Darin ist u.a. zu lesen, daß inzwischen immer klarer wird, wie der Verdacht auf Andrej H. fallen konnte. Seine Anwältin Christina Clemm kennt die Antwort: Google.
Clemm zufolge haben die Fahnder des BKA im Internet nach bestimmten Stichworten gesucht, die auch die "militante gruppe" in ihren Bekennerschreiben benutzt. Darunter seien Begriffe wie "Gentrification" oder "Prekarisierung". Da H. zu diesen Themen forsche, seien die Fahnder auf ihn aufmerksam geworden. "Das reichte für die Ermittlungsbehörden für eine fast einjährige Observation, für Videoüberwachung der Hauseingänge und Lauschangriff", so Clemm. [Kommissar Google jagt Terroristen, taz, 22.8.2007]
Und ebenfalls in der taz nehmen Richard Sennett und Saskia Sassen Stellung:
Sollten unsere Kollegen wirklich gefährliche Soziologen sein, dann sollten sie mit rationalen Mitteln strafrechtlich verfolgt werden. Aber, wie in Guantánamo, scheint die Verfolgung an Stelle der Strafverfolgung getreten zu sein. [Sassen/Sennett: Das Verbrechen der Soziologie, taz, 22.8.2007]
Alle Artikel:
- Das Ende der kritischen Wissenschaft. Gespräch mit Hartmut Häußermann. 21.8.2007
- Schwentker, Björn: Aufgebauschte Beweise. Die Zeit, 21.8.2007
- Sassen/Sennett: Das Verbrechen der Soziologie, taz, 22.8.2007
- Kommissar Google jagt Terroristen, taz, 22.8.2007
»2. In den letzten Querverweisen von vorgestern hatte ich bereits darauf hingewiesen, daß Tocotronic ihre zweite Singleauskopplung "Imitationen" nun durch ein Video veredelt haben. Und inzwischen ist dieses kleine Kunstwerk auch soweit digitalisiert und handlich, daß ich es gerne hier einstelle. Je öfter man diese Songs hört – und dies gilt nicht nur für "Imitationen", sondern im Prinzip für alle Titel des Albums "Kapitulation" – desto frappierender zeigt sich die traumwandlerische Sicherheit mit der Dirk von Lowtzow ergreifende Gedanken in Text- und Versform gießt. Hier ist nichts falsch, kein Bild zu bemüht oder allein einer Effekthascherei geschuldet. Es offenbart sich, daß Kunst sehr wohl authentisch sein kann.
Bitteschön – schauen Sie rein:
»3. Vor wenigen Stunden ist mir die Einladung zu einer Geburtstagsfeier ins Mailbrieffach geflattert. Eine mir nicht gänzlich unsympathische Person lädt – bei hoffentlich günstigen meteorologischen Verhältnissen – zum Picknick. Und ich werde natürlich auf dem falschen Fuß erwischt, geschenketechnisch zumindest. Wie gut, daß es den "Kleinen Kolonialwarenladen" gibt. Hier stöbert man doch gern. Nostalgie gepaart mit hochwertigen Produkten, die man nicht an jeder Ecke bekommt.
Im Moment schwanke ich noch: das Angebot ist zu verlockend. Und die Versprechungen nehmen sich bescheiden aus, nichts verachte ich mehr als substanzlose Vollmundigkeit; Lebensmittel sind ja durchaus gute Schenksachen und "1 Glas Wasser" nicht unoriginell:
Ein Glas Wasser ist der ideale Durstlöscher! Ob beim Freizeitsport oder in der Frühstückspause – ein Glas Wasser wirkt oft wahre Wunder.
Wasser macht Freude – Auch zum Bespritzen, Gurgeln oder als Kühlwasser im Auto ist das köstliche Naß geeignet. Oder: Verarbeiten Sie ein Glas Wasser weiter, z.B. zu Spülwasser oder Suppe!
Aber ich fürchte, das Wasser schmeckt doch etwas neutral. Vielleicht etwas mit mehr Geschmack? Oh, toll… es gibt auch Bier, sogar aus Norwegen:
In jeder Flasche Högörök Premium Bier steckt die jahrhundertelange Erfahrung einer traditionsreichen Privatbrauerei. Um die restriktive skandinavische Alkoholgesetzgebung zu umgehen, entwickelte die Högörök-Brauerei Anfang der neunziger Jahre die Spezialsorten "Bold", "Hevvi Bold" und "Schadel Eksplosion".
Naja, werde wohl noch etwas weiterstöbern:
»4. Und eben lese ich bei Nicorola, daß man sich auf ein neues Album einer ganz vorzüglichen Band freuen darf. Vor zwei Jahren lieferten nämlich "Okkervil River" mit Black Sheep Boy eines der besten Alben des Jahres ab und wenn ich Nicorolas Kritik durchlese, so ist der Band um den Sänger Will Sheff wieder ein großer Wurf gelungen.
Das mittlerweile vierte Album von Okkervil River fällt mit der Tür ins Haus. “Our Life Is Not A Movie Or Maybe” ist ein wahnsinnig starker Opener, der die Stärken der Texaner sofort in den Vordergrund stellt. Zum Nachdenken anregende, zum Teil selbstreferentielle Texte, großartiges Songwriting, schöne Melodien und mitreißender Gesang. Das zweite Stück legt hier noch eine Schippe drauf und ist meiner Meinung nach bis dato der beste Song der Band. And I know it’s a lie, but I’ll still give my love. Hey, my heart’s on the line for your hands to pluck off.
Ich selbst kann bislang noch recht wenig dazu sagen. Auf der Band-Website ist es aber auch möglich, alle Tracks des kommenden Albums anzuhören. Das nenne ich Service. Wer ungern die Katze im Sack kauft, der sei dorthin verwiesen. Ich selbst kann aus eigener Erfahrung nur beisteuern, daß Will Sheff zwar phänotypisch einem neurotischen Physikstudenten gleicht, allerdings auf der Bühne ungemein charismatisch agiert. So etwa vor gut einem Jahr im Münchner Atomic Cafe. Und da der Titel "For real" sehr nahe am perfekten Indierocksong ist und das dazugehörige Video bezaubernd gemacht ist, sei dieses hier abschließend eingestellt:
Empfehlenswert:
- Okkervil River: Black Sheep Boy. 2005.
- Okkervil River: The Stage Names. 2007.
- Band-Website: Okkervilriver.com