Die Wissenschaft vom neuen Netz » Forschungsfragen, Methodologie und Diskussionen | Werkstattnotiz IX

Zurück aus Bamberg, zurück in den grauen Alltag. Der Münchner Nieselregen weckt fast schon sehnsuchtsvolle Erinnerungen an die zurückliegenden spannenden, sonnigen Tage. Die Organisation und somit die Rand- und Rahmenbedingungen des Workshops "Das neue Netz? Bestandsaufnahmen und Perspektiven" waren geradezu ideal: Jan Schmidt, Florian L. Mayer und ihre Hiwi-Mannschaft hatten alles notwendige vorbereitet, die offene Workshopstruktur bot ausreichend Raum für interessante Diskussionen und die Auswahl der Locations für Mittag- und Abendessen, erwies sich ebenfalls als Volltreffer.

Was aber bleibt, jenseits der Erkenntnis, daß es sich bei einem fränkischen Bier vortrefflich mit anderen (Sozial-)Wissenschaftlern diskutieren läßt? Was bleibt hängen, außer der Information, daß auf dem Bamberger Domplatz einst die Stelle markiert war, an dem sich der "Nabel der Welt" befinden sollte? 

Zunächst: Menschen, die sich mit wissenschaftlichem Anspruch mit der Blogosphäre, ihren verschiedenen Teilaspekten und Verschränkungen zwischen virtueller und realer Identität beschäftigen, sind freundliche Zeitgenossen. Auffallend war, daß bei allen Präsentationen und allen sich anschließenden Debatten zwar kritisch nachgefragt und debattiert wurde, allerdings an keiner Stelle Profilierungssucht und Geltungsdrang zum Vorschein kam. Wichigtuerei, Konkurrenzdenken gar, scheint den Vermessern der Blogsphäre offenbar fremd zu sein.

Wohin treibt das Netz? Wohin treiben wir? – Forschungsfragen zum Web 2.0

Einer der Aspekte, der das meiste Interesse auf sich zog, war die Frage nach dem Verhältnis von Öffentlichkeit und Privatheit im Web 2.0. Es gab durchaus interessante Präsentationen zu dieser Frage, die allerdings teilweise daran krankten, daß die Datenbasis unzureichend und die durch die Clusteranalyse gewonnen Gruppen nicht unbedingt aussagekräftig waren. So skizzierte Leonhard Reinecke in seinem Vortrag "Privatsphäre 2.0" zwar sehr anschaulich die Ergebnisse seines Projekts, allerdings ist es eben doch bedauerlich, wenn es letztlich doch nur möglich ist, zwischen Web2.0-Produzenten, Web2.0-Rezipienten und schließlich den Abstinenzlern zu differenzieren. Denn – wie wir in der anschließenden Diskussion auch feststellten: zwischen Blogbetreibern und denjenigen, die ggf. Comments posten besteht vermutlich durchaus ein großer Unterschied; beide Gruppen zählen aber – genauso wie die Wikipedianer – zur Gruppe der Web2.0-Produzenten.

Insofern darf man Leonard evtl. die Daumen drücken, daß er ein Anschlußprojekt bewilligt bekommt, wo er dann differenzieren kann und möglicherweise auch eine spannende Querschnittsuntersuchung anschließen kann. Denn – so mein Verdacht – möglicherweise verändert sich die Sensibilität des Umgangs mit privaten Daten (resp. das Konzept ’self-disclosure‘) auch mit der Zeit der Zugehörigkeit bzw. Verweildauer im Web 2.0. Stichwort: Gewöhnungseffekte…

Foucault hätte sich wohl kaum träumen lassen, welche Blüten die Kontrollgesellschaft einstmals treiben würde.

Recht vielversprechend fand ich persönlich Lars Alberths kurze Vorstellung, in welchen Formen der Körper bzw. Leiblichkeit im Web2.0 dargestellt und thematisiert wird. Ich könnte mir vorstellen, daß es sich lohnen könnte, den Fokus gezielt darauf zu richten, welche Facetten der Selbstdisziplinierung hier vorzufinden sind. Die bisherigen Indizien, die Lars bereits gesammelt hat – nämlich daß hier das Medium Web2.0 eine neue Spielweise für spannende Formen der Körper-Gouvernementalität bietet – sind jedenfalls spannend. Die Techniken des Selbst werden hier anschaulich sichtbar. Foucault hätte sich wohl kaum träumen lassen, welche Blüten die Kontrollgesellschaft einstmals treiben würde.

Bevor ich nun aber beginne, alle Präsentationen zu kommentieren (und dabei Gefahr laufe, Kurzschlüsse zu produzieren), möchte ich abschließend noch auf eine interessante Diskussion zu sprechen kommen, die sich am Freitagabend ergab. Wobei – halt: zuvor muß ich noch anmerken, daß Klaus Steins Ausführungen zu neueren Versuchen, die an sich unterkomplexen Suchalgorithmen durch Vertrauens- und Bewertungsfeatures zu erweitern, ungemein charmant und anschaulich waren. Hier konnte man wieder einmal ablesen, daß Interdisziplinarität bzw. der Blick über den disziplinären Tellerrand sehr befruchtend sein kann. Genauso bemerkenswert war freilich der Vortrag von Christian Pentzold, der mit riesiger Begeisterung die ersten Schritte und Ergebnisse seiner Doktorarbeit zu Fragen der Machtstrukturen und -spiele in Wikis vorstellte.

Neugier, Distanz und der methodologische Standpunkt

Nun aber zur erwähnten Diskussion, die Kaya und mich auch noch auf dem Nachhauseweg beschäftigt hat. Ausgangspunkt war die Schilderung Steffen Blaschkes, daß offenbar Diplomanden im Fach Medienwissenschaft die einschlägigen Softwareinstrumente häufig nicht nutzen, sondern bspw. digital vorliegendes Datenmaterial erst ausdrucken, um dann umständlich und zeitaufwendig von Hand die einzelnen Auswertungsschritte vorzunehmen. Die erste Frage lautete also, ob man es etwa einer Diplomarbeit zu ihrem Nachteil anrechnen darf, daß die Ergebnisse nicht mit den avancierten, zeitgemäßen Techniken erarbeitet wurden.

Relativ schnell wurden wir uns dann mit Lars Alberth einig, daß es einen Königsweg nicht gibt und geben darf. Wer es präferiert, seine Texte von Hand zu schreiben oder Opas Olivetti-Schreibmaschine bemüht, sorgt zwar für Irritationen, die wissenschaftliche Arbeit muß aber selbstverständlich ungeachtet dessen bewertet werden. Das ist freilich einigermaßen unstrittig, allerdings ergab sich später eine zweite, spannendere Frage. Und zwar die nach dem angemessenen Beobachterstandpunkt, wenn es um die wissenschaftliche Analyse von Praktiken des Web 2.0 geht.

Muß ich selbst einen Blog betreiben, um über die Blogosphäre forschen zu können? Wieviele Wikiartikel muß ich geschrieben haben, um zu diesem Thema wissenschaftlich zu arbeiten?

Oder anders formuliert: Muß ich selbst einen Blog betreiben, um seriös und glaubhaft über die Blogosphäre zu schreiben? Wieviele Wikipedia-Artikel muß ich selbst editiert haben, in wievielen Edit-Wars muß ich als Sieger vom Platz gegangen sein, um mich als Wikipediaforscher bezeichnen zu dürfen?

Zugegeben: wenn ich die Fragen auf diese Weise stelle, so liegt die Antwort nahe, daß man eben nicht notwendigerweise selbst diese Praktiken (das Bloggen, das Schreiben von Wikiartikeln etc.) erprobt haben muß, um hier wissenschaftlich fundierte Aussagen treffen zu können. Interessant ist die Frage aber allemal, da garantiert andere Standpunkte anzutreffen sind. Wie ist es denn mit der Frage nach Nähe und (objektiver) Distanz? In anderen Fällen ist die aus der Ethnologie entlehnte Methode der "teilnehmenden Beobachtung" eine vielversprechende Perspektive. Was ist aber, wenn ich mich als arrivierter Blogger selbst längst inmitten des Feldes positioniert habe, über das ich nun verallgemeinerbare Aussagen treffen will? Gibt es nicht auch so etwas wie eine "Betriebsblindheit", wenn ich allzu stark mit meinem Forschungsgegenstand verwoben bin?

Luhmann wußte: "Botaniker sind keine Bäume!" Wie schön haben es also die Naturwissenschaftler?

Das sind alles keine neuen Fragen, allerdings sind es gerade was die Wissenschaft des Web 2.0 angeht durchaus Punkte, die beantwortet oder zumindest reflektiert werden sollten. Am Ende ist diese Problematik freilich dem seit je ambivalenten Gegenstandsbezug der Sozialwissenschaften geschuldet, die ja immer schon Teil der Gesellschaft sind, die sie zu analysieren beanspruchen.

Wie gut und komfortabel haben es1 da doch die Naturwissenschaften. Wie sagte Luhmann in einer meiner Lieblingsformulierungen noch so schön? Genau! "Botaniker sind keine Bäume!" Blogwissenschaftler sind aber häufig genug Blogger – und sie sollten sich dessen bewußt sein. Nicht mehr, nicht weniger. Aber soviel methodologische Reflektiertheit sollte schon sein.

 


Weitere Anmerkungen zum Workshop gibt es u.a. bei Tina, Lars, Alexander und Kaya.

Technorati: dnn2007

 


Offene Fragen zur Methodik? Mehr Infos u.a. hier:

 

  1. Wenigstens auf den ersten Blick, auf den zweiten offenbaren sich auch hier vielfältige Schwierigkeiten. []

5 Gedanken zu „Die Wissenschaft vom neuen Netz » Forschungsfragen, Methodologie und Diskussionen | Werkstattnotiz IX“

  1. Hallo Marc. Ja, die Berücksichtung der sozialen Position im Feld ist noch viel wichtiger als der Umgang mit Technologie. Wenn wir nicht wissen, wie wir uns zum „Material“ verhalten, dann nutzt noch so große Kenntnis des Codes und seiner Möglichkeiten gar nichts.

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  2. Botaniker sind keine Bäume – Kommunikationswissenschaftler betreiben keine Kommunikation? Ich würde auf jeden Fall auch für eine bewusste (!) Trennung zwischen Erfahrungswelt und wissenschaftlicher Beurteilung und Analyse unterscheiden. Die Bäume sind allerdings fester Bestandteil eines jeden Menschen und somit auch eines jeden Botanikers. Blogs und andere „neue“ Formen der CMC sind es leider (noch) nicht bei der forschenden Generation. Ich denke, daher ist es unbedingt notwendig, sich mit dem Thema seiner Forschung intensiv auseinanderzusetzen – was insb. mit Blogs gar nicht anders zu bewerkstelligen ist, als mit „teilnehmen“ – sprich: mitmachen. V.a. wenn es um Erfahrungen von Vernetzung geht, um das „Kommentare bekommen“ etc. Ich denke die Gefahr liegt im Vermischen der Ebenen: Der subjektiven Erfahrungsebene und der soll-objektiven wissenschaftlichen Ebene.
    Insofern würde ich die von Dir genannte „methodologische Reflektiertheit“ voll unterstützen. :)

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  3. @Sebastian:

    In der Trennung von „subjektiver Erfahrungsebene“ und „wissenschaftlicher Beschreibungsebene“ sind wir ja einer Meinung. Und wie ich geschrieben habe, sehe ich auch kein grundlegendes Problem darin, daß jemand, der bspw. bloggt selbst über Blogs forscht. Allerdings halte ich den Umkehrschluß nicht für statthaft: denn wer sich professionell-wissenschaftlich mit Blogs befaßt muß nicht notwendigerweise selbst einen Blog betreiben. Da liegt wirklich ein Irrtum vor.

    Beide Zugänge sind legitim, aber man sollte eben mindestens kurz seinen jeweiligen Standpunkt reflektieren und auch dezidiert ausweisen. Das ist ein Gebot wissenschaftlicher Redlichkeit.

    Weshalb ich Luhmann zitiert habe: in dieser Formulierung bringt er pointiert den prekären, ambivalenten Gegenstandbezug der Gesellschaftswissenschaften zum Ausdruck. Es geht schlicht um eine epistemologische Grundfrage – und diesbezüglich ist unstreitig, daß Gesellschaftswissenschaftler immer schon Teil ihres Wissensobjektes sind. In anderen Disziplinen stellt sich diese Frage aber nicht in dieser Weise. Denn: „Botaniker sind keine Bäume!“ In diesem Sinne besteht ein kategorialer Unterschied.

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