Das Geschenk meines Lebens » Tocotronic bezaubern mit Explosion und beschwören einen Anti-Nietzsche | Werkstattnotiz XXI

Nun also doch eine kurze Geschichte des Zusammentreffens von Tocotronic und mir: so genau läßt es sich heute kaum mehr sagen, ob ich an diesem Abend im August Tocotronic begegnet bin oder die Band und ihre Musik mir.

Im nachhinein spielt das auch keine Rolle. Und im Gegensatz zu manchen Begegnungen, von denen sich erst lange Zeit später herausstellt, daß sie bedeutungsvoll für das weitere Leben werden sollten, stellte sich diese Frage hier nie: diese Musik war wichtig. Diese „wunderbaren Songs, diese wunderbaren Lieder“ – wie Tocotronic Monate später selbst sangen – waren genau meine Musik. Ich glaube nicht, daß es länger als ein paar Sekunden, mehr als wenige Takte brauchte, bis für mich feststand, daß diese Band mir etwas bedeutete.1

Woher wissen wir, daß uns eine Sache etwas bedeutet? Wie oft passiert es, daß uns eine Sache ganz hat und umgekehrt wir sie ganz haben?

Wenn für mich bis zu diesem Abend die Verse Hölderlins durchaus zutreffend waren, so waren sie es nach diesem Abend nicht mehr. Bis zu diesem Tag vor genau zwölf Jahren und zwei Monaten galten für mich zweifellos diese Zeilen:

Ein Zeichen sind wir, deutungslos
Schmerzlos sind wir und haben fast
Die Sprache in der Fremde verloren.2

Genau die Sprache von Tocotronic war aber – soviel stand für mich fest – gleichzeitig meine Sprache; und die Lesarten, all die Situations- und Generationsdeutungen, die Dirk von Lowtzow formulierte, waren auf fast unheimliche Art und Weise deckungsgleich mit den meinigen.

Wer außer Tocotronic formulierte so präzise diese spezifische Befindlichkeit? Kann man die „Unentschlossenheit der Jugend und die Verdrossenheit der Tugend“ stimmiger ausdrücken?

Michael Ende, Du hast mein Leben zerstört“ schepperte aus den Boxen des KKF in Schwäbisch Gmünd; Bernhard, Martins älterer Bruder hatte dort während seines Studiums hinterm Tresen gejobbt und auf Wunsch von Martin die CD „Nach der verlorenen Zeit“ eingelegt. Muß ich noch hinzufügen, daß ich am nächsten Morgen beim örtlichen Plattenhändler genau diese CD käuflich erwarb? Und es ging mir genau so, wie Tocotronic erst ein Jahr später sangen:

„Es hat mich lange schon nichts so sehr / Berührt wie diese Team Dresch Platte
Als ich aus dem Laden kam / War ich froh daß ich sie hatte
Diese Harmonien diese wunderbaren Lieder / Ich fand mich sofort in diesen Liedern wieder

Und ich weiß sie sind nicht für mich / Ich weiß und trotzdem glaube ich
Daß ich sie verstehen kann…“3

Aber genau das war eben bezeichnend: in meinem Leben – auf den Wegen, die ich ging – ereignete sich etwas, was parallel dazu von Dirk von Lowtzow, Jan Müller und Arne Zank in unnachahmlich krachiger Weise in musikalische Form gebracht wurde. Und mit dieser Formgebung, dieser großartigen Kunst, die Befindlichkeiten der gleichzeitig zu spät und zu früh geborenen Studentengeneration auf den Punkt zu bringen, begleiteten Tocotronic mich auch die nächsten Jahre.

Und während die Herrschaften um den Grafen von Lowtzow älter wurden und sich ihre Musik veränderte, veränderte ich mich mit ihnen. Die neuen Alben, neue musikalische Gratwanderungen kamen nie zu früh, aber auch nie zu spät. Glückliche Simultanität.

Und am morgigen Abend werde ich – ich habe es eben nachgezählt – zu meinem zehnten Tocotronic-Konzert gehen.4 Man merkt: es ist nicht so, daß hier ein fanatischer Fan spräche. Denn auf die Idee, der Band nachzureisen, wäre ich nie gekommen. Und es kommt vor, daß ich wochenlang kein einziges Tocotronic-Stück höre. Aber vermutlich ist das auch schon lange nicht mehr notwendig.

Im Song „Explosion“ kommt das tocotronische Denken des Jahres 2007 in Reinform zum Ausdruck – Absage an Nietzsche: „Kein Wille triumphiert!“

Und eben habe ich einen Teil-Mitschnitt des Konzerts von Graz entdeckt, das wohl am Samstag stattgefunden hat. Und glücklicherweise ist auch das Lied „Explosion“ verfügbar, das ich ja bereits an verschiedenen Stellen als mehr als großartig bezeichnet habe. Es ist eben wieder genau diese bezaubernd tocotronische Vermengung von wunderschönem Krach und bedenkenswerten Texten.

Ich stelle mir die Frage, ob man diese berückend-berauschende Kraft, diesen Sog der Musik auch empfindet, wenn man musikalisch anders sozialisiert wurde? Muß man jahrelang die Stimme von Lowtzow gegen ihre Verächter verteidigt haben, um hier nun fast verzaubert zu sein? Um dann gebannt zuzuhören, wenn es – nachdem die verzerrten Gitarren genug Fahrt aufgenommen und Substanz entwickelt haben – heißt: „Kannst du vor deinen Augen / Die Explosionen sehen? / Ein Feuerwerk in der Nacht…„?

Und wie kommt es, daß in diesem Schlußsong des aktuellen Albums, eben mal wieder eine programmatische Formel für mein derzeitiges Leben gefunden wird? Denn was beschriebe „meine Welt“ besser als dieser Refrain?

Alles gehört dir
Eine Welt aus Papier
Alles explodiert
Kein Wille triumphiert

Ja, nur woher wußte das Dirk von Lowtzow? Vielleicht bin ich morgen abend schlauer…5

 



 

Linktipps:

Literatur- und CD-Empfehlungen:

 

 

 

 

  1. Und dies eben im umfassenden Sinn des „be-deutens“, nämlich des Anbietens und Aufzeigen von verschiedenen Lesarten. []
  2. vgl. Friedrich Hölderlin, Mnemosyne, Zweite Fassung []
  3. So die Passagen aus „Die Sache mit der Team Dresch Platte“, Album: „Wir kommen um uns zu beschweren“, 1996 []
  4. Und an dieser Stelle seien meine verschiedenen Konzertbegleitungen gegrüßt! Also angefangen von Stefan, Alex, Bruno und Martin, bis zu Andi, Oli und Sandra und schließlich Kaya… Und morgen sind ja zumindest Christiane und Frank mit von der Partie. []
  5. Wie nachzulesen ist, gibt es sogar noch Restkarten an der Abendkasse. Wie wär’s Oli? Die letzten Konzerte sollen dem Vernehmen nach [coderwelsh] großartig gewesen sein. Besonders hier in Graz und in Wien… []

3 Gedanken zu „Das Geschenk meines Lebens » Tocotronic bezaubern mit Explosion und beschwören einen Anti-Nietzsche | Werkstattnotiz XXI“

  1. Die neuen Texte sind nicht, wie die, die uns damals faszinierten, die einer Jugendbewegung, aber wir sind ja, wie du geschrieben hast, Gott sei Dank auch simultan mitgealtert. Dennoch: Die Texte der selbstbetitelten Platte waren mir doch eine Spur zu esoterisch.

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  2. @Daniel

    Du hast natürlich vollkommen recht, daß v.a. die vier Alben bis zu „Es ist egal, aber“ viel prägnantere Texte aufwiesen, die sich auch besser eigneten, um unmittelbar auf das eigene Leben bezogen zu werden.

    Dann schloß sich eine Phase an, die sich eben auch dezidierter einer Vereinnahmung verweigerte und noch stärker versuchte die Songs als individuelle und nicht übertragbare (Kunst-)Äußerungen zu artikulieren. Und schließlich, Du erwähnst es, kam das weiße Album das dann doch eine recht eskapistisches Tendenz aufwies. Dennoch sind auch dort wunderbare Songs drauf.

    Und die „Kapitulation“ von diesem Jahr mit Liedern und Slogans wie „Sag alles ab“ schließen dann doch auch wieder (auf anderem Niveau) an frühere Zeiten an. Es ist dann auch ein wenig der Umstand, daß man selbst 10 Jahre älter geworden ist, daß man sich dann doch nicht mehr so stark mit den Texten identifiziert, wie es für heute 20jährige noch oder wieder möglich ist.

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  3. Pingback: orxfwuun

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