Diskussionen finden häufig ein unerfreuliches Ende, wenn plötzlich der Utopie-Vorwurf im Raum steht. Sobald die eine Partei der anderen vorwirft, sie argumentiere nicht mehr sachlich, habe längst den Realitätsbezug verloren, dann folgt meist noch ein abschätziges und jede weitere Diskussion beendendes: "Ach, Du redest doch von einer Utopie!"
Konkrete Utopien sind real, aber noch nicht verwirklicht. Es sind denkbare Zukünfte, deren Möglichkeitsbedingungen bereits vorliegen.
Der Gegenseite eine utopisches Position vorzuwerfen, ist eines der perfidesten Totschlagargumente. Denn wer will schon ernsthaft als Träumer und Architekt von Wolkenkuckucksheimen abgestempelt werden? Vor einigen Jahren habe ich in solchen Situationen bisweilen mit Ernst Bloch gekontert. Denn Bloch hatte die konventionelle Perspektive, die in Utopien bloß wünschbare Zukunftsentwürfe und somit Utopie im Grunde lediglich als traumhaft-irreales (und damit müßiges) Konzept verstand, in einem wichtigen Punkt ergänzt und korrigiert: Bloch verweist mit seinem Begriff der "konkreten Utopie" nämlich darauf, daß bestimmte Zukunftsentwürfe zwar noch nicht verwirklicht, aber dennoch denkbar sind. Und genau diese Konzepte, deren (Verwirklichungs-)Bedingungen vorhanden sind und bei denen lediglich die Realisierung noch aussteht, bezeichnet Bloch als "konkrete Utopie".
Und in diesem Sinne ist der Begriff "Utopie" eben nicht negativ, sondern ausdrücklich positiv konnotiert; und folglich fordert Ernst Bloch: "Darum nie genug konkrete Utopie!"1
Das Web-Portal "Utopia" richtet sich an selbstbewußte Konsumenten
Ein spannendes und uneingeschränkt begrüßenswertes Web-Portal ist nun vergangene Woche unter genau diesem Etikett an den Start gegangen: Utopia, so nennt sich selbstbewußt dieses superprofessionell gestaltete Informations-Konsumentenportal, das mündige, ökologisch bewußte Bürger/innen mit allerlei Informationen ausstatten will. Erreicht werden soll dies durch die Integration von Web2.0-Features innerhalb einer klassischen Info-Website. Redaktionell bereitgestellte Inhalte sollen also durch zusätzliche Informationen ergänzt werden, die durch die Website-User ("die Utopisten") geliefert werden. Die Idee ist nicht neu, aber vielversprechend und für das Segment des nachhaltigen Lebensstils noch nirgendwo umgesetzt.
In der Selbstbeschreibung liest sich das Konzept so:
Utopia ist das Internetportal für strategischen Konsum und nachhaltigen Lebensstil. Inhaltsgetrieben, informativ, praktisch, realitätsnah und serviceorientiert.
Und das faszinierende Moment der Website, die als Anlaufselle für eine wachsende Community dienen soll, liegt definitiv an den Optionen, die die Mitglieder selbst generieren und mit den anderen teilen:
"Jeder ist herzlich eingeladen, mitzumachen. Registrierte Utopisten erfahren hier, welche Produkte und Dienstleistungen man heute mit gutem Gefühl kaufen kann. Schnell, einfach und lebensnah finden Sie Tipps und Ideen, Rat und Tat, Fakten und Empfehlungen für ein neues, bewussteres Leben."
"Utopisten bewerten Produkte, Marken und Unternehmen, tauschen ihre Erfahrungen aus, posten Beiträge und kommentieren. Die Utopia-Redaktion versorgt Sie mit den neuesten Infos, den wichtigsten Hintergründen und den heißesten nachhaltigen Produktentwicklungen. Zu den Mitgliedern der Community gehören auch ausgewiesene Experten aus allen Bereichen der Nachhaltigkeit, die Ihr Fachwissen beisteuern."
Jeder Kaufakt ist (auch) politisch: werden Sie zum strategischen Konsumenten!
Da mich die Idee und die Umsetzung überzeugt, will ich auch gar nicht mehr viele Anmerkungen hinzufügen, sondern vielleicht noch erwähnen, daß einer der kooperierenden Partner das Freiburger Öko-Institut ist, das ich als wissenschaftlichen Think-Tank sehr schätze. Schön, daß hier etwas entsteht, das endlich die Entscheidungsfreiheit von nachhaltigkeitsbewußten Konsumenten Ernst nimmt und diese unterstützt.
"Welche Erfahrungen haben Sie gemacht? Worüber wollen Sie mehr erfahren? Wo sind Sie bereits Experte? Was wirkt, was schmeckt, was nervt? Nehmen Sie sich ein bisschen Zeit für Utopia. Es lohnt sich. Schließlich geht es um nicht weniger als um das Ganze."
"Ein Ziel von Utopia ist es, dazu beitragen, dass Millionen von Verbrauchern ihr Konsumverhalten ändern. Dass sie bewusster entscheiden und so mit jedem Kauf umweltfreundliche Unternehmen und faire Arbeitsbedingungen in aller Welt unterstützen."
Ich glaube, Ernst Bloch wäre durchaus positiv von diesem Modell angetan gewesen. In diesem Sinne: "Nie genug konkrete Utopie!" – liebe Werkstattbesucher, klicken sie rüber und begutachten das Angebot. Es war noch nie so leicht, Utopist zu werden…
Hier geht’s zur Website:
Aufmerksam geworden bin ich auf Utopia bei Reto:
- Stauss, Reto: Öko goes Web 2.0, nachhaltigBeobachtet, 13.11.2007
- in: "Abschied von der Utopie", in: Abschied von der Utopie? Vorträge, herausgegeben von Hanna Gekle, Frankfurt am Main 1980, S. 82. [↩]
1 Gedanke zu „„Darum nie genug konkrete Utopie!“ » Das Portal „Utopia“ verspricht die Symbiose von Nachhaltigkeit & Konsumentenautonomie | Werkstattnotiz XXXIII“