Ich weiß nicht, ob es ratsam ist, sich Lebensmaximen zurecht zu legen, an denen man sich entlang hangelt. Eine meiner impliziten Prämissen lautet jedoch: "Unterstelle Deinem Mitmenschen zunächst immer Gutes!" Ja, ich ahne, daß mich die allermeisten Leser jetzt für einen unverbesserlichen und zugleich naiven Philanthropen halten werden. Denn erfahren wir nicht Tag für Tag, daß Dummheit und Eigennutz die Weltenläufte bestimmen? Sieht man nicht überall, daß Selbstbereicherung und Egoismus die leitenden Motive sind?
Und gewiß – seien sie also beruhigt: so naiv und blind bin ich nicht – es gibt zigtausende Beispiele dafür, daß niedere Motive und Ungerechtigkeiten viel zu oft zum Erfolg führen. Allerdings weigere ich mich, mich in die Riege der nörgelnden Verdachtstheoretiker einzureihen, die noch dem letzten Zweitligakicker unterstellen, dessen Motivation sei allein das viele Geld. Und wenn es mal wieder gilt, auf die faulen (und wie jeder weiß überbezahlten) Lehrer zu schimpfen oder wenn in der Diskussion mal wieder die notorische Skrupel- und Gewissenlosigkeit von Gen- oder Biowissenschaftlern behauptet wird, dann bin ich der Erste, der sich für Lehrer oder die geschmähten Wissenschaftler in die Bresche wirft. Denn – und ich weiß es aus eigener Anschauung – die meisten Lehrer sind wirklich engagiert und arbeiten gewiß mehr als 38,5h/Woche und auch jedem Gentechforscher würde ich zunächst nichts anderes als Neugier und Forscherdrang unterstellen.
Lehrer sind nicht faul, Wissenschaftler nicht skrupellos, Politiker nicht korrupt. Meistens…
Wie oft ich die Politikerkaste schon in Schutz genommen habe, wenn wieder einmal in der Vorurteilsmottenkiste gekramt wurde, weiß ich schon nicht mehr. Aber wenn Politiker pauschal als korrupt, arbeitsscheu und überbezahlt diffamiert werden und gar der müde Witz bemüht wird, der Kopf von Politikern sei einzig und allein dazu da, damit es ihnen beim Spatenstich zum Neubau der Umgehungsstraße nicht in den Hals hineinregnet, dann beharre ich darauf, daß es sich bei den gewöhnlichen Bundestagsabgeordneten um fleißige und intelligente Volksvertreter handelt, die zudem einen oftmals undankbaren und kräftezehrenden Job machen.
Ich bin – und zu wenig anderem diente diese Einleitung – also durchaus der Ansicht, daß überwiegend kompetente Mitbürger im Berliner Parlament sitzen. Aber wenn nach einer zentralen Bundestagsentscheidung wie vom letzten Freitag, als die Vorratsdatenspeicherung von fast allen CDU/CSU und SPD-Abgeordneten abgenickt wurde, eine Gruppe von 26 SPD-Abgeordnetete folgende Erklärung abgibt [Download als PDF],1 dann bin selbst ich sprachlos:
"In den letzten Jahren hat es eine zunehmende Tendenz gegeben, ohne die Effektivität bestehender Gesetze zu überprüfen, mit neuen Gesetzen vermeintlich Sicherheit zu erhöhen und Freiheitsrechte einzuschränken. Der vorliegende Gesetzentwurf befördert diesen Paradigmenwechsel und ist deshalb bedenklich. Am Beispiel der sogenannten Vorratsdatenspeicherung sei dies verdeutlicht: Mit dem Gesetz werden die Telekommunikationsunternehmen zum ersten Mal verpflichtet, die im Gesetz aufgeführten Daten zum Zwecke unter anderem der Strafverfolgung über einen Zeitraum von sechs Monaten zu speichern. Das ist natürlich ein gravierender Unterschied zur bisherigen Rechtslage, wonach den Unternehmen gestattet war, zu Abrechnungszwecken die entsprechenden Daten bis zu sechs Monate zu speichern. Aus dem Recht der Unternehmen wird eine Verpflichtung, auch zu anderen Zwecken. Damit ist die Einschätzung nicht von der Hand zu weisen, dass hier ein Generalverdacht gegen alle Bürger entsteht, die solche Kommunikationsmittel benutzen, ohne dass für die Speicherung als solche ein konkretes Verdachtsmoment bestehen muss."
Und die 26 Abgeordneten geben weiterhin zu Protokoll:
"[Daß] Freiheitsrechte wie das Recht auf informationelle Selbstbestimmung konstitutiven Charakter für die Existenz unseres Gemeinwesens haben. (…)
[In einem] Abwägungsprozess gilt für uns, dass Sicherheit keinen Vorrang vor Freiheit genießen darf, will man beides gewährleisten. Weder gibt unsere Verfassung ein Grundrecht auf Sicherheit her, noch ist vorstellbar, dass es ohne Abschaffung der Freiheit eine Erklärung nach absolute Sicherheit gegen jedwede Gefährdung durch kriminelles Handeln geben kann."
Aber entgegen diesen zutreffenden Einsichten, die – so muß man ja unterstellen – in den Köpfen dieser 26 SPD-Politiker immerhin einmal vorhanden waren, stimmten sie geschlossen mit "Ja" für das strittige Gesetz!
Schizophrenie oder Feigheit? Wie kann man einem Gesetz zustimmen, dessen teilweise Verfassungswidrigkeit man selbst konstatiert?
Wie schizophren kann man sein, daß man zwar massive Vorbehalte gegen ein Gesetzesvorhaben formuliert, die richtigen Argumente auch noch überzeugend auflistet, dann aber dennoch diesen Überzeugungen zuwiderhandelt? Eine Erklärung für dieses kaum mehr verständliche Abstimmungsverhalten, wird ganz am Schluß des Dokuments nachgereicht:
"Eine Zustimmung ist auch deshalb vertretbar, weil davon auszugehen ist, dass in absehbarer Zeit eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts möglicherweise verfassungswidrige Bestandteile für unwirksam erklären wird."
Wie bitte?! Man legitimiert die eigene Zustimmung damit, daß man ja ohnehin eine Korrektur durch das Bundesverfassungsgericht erwarte? Man stimmt also einem Gesetz zu, dessen "verfassungswidrige Bestandteile" man kurzerhand als Entschuldigung für das eigene schizophrene Abstimmungsverhalten umdeutet? Frei nach dem Motto: Der Gesetzentwurf ist ohnehin verfassungswidrig, also kann man sich getrost der Fraktionsdisziplin unterordnen?
Wenn man für seine angeblich kritische Position keine Mehrheit findet, dann sollte man wenigstens den Mut haben und mit "Nein" stimmen oder sich enthalten. Diese Feigheit, die sich zu allem Überfluß noch selbst aus der Verantwortung stehlen will, ist aber obszön und jämmerlich.
Und ob ich mich bei der nächsten Diskussion wieder argumentativ für die Politiker stark machen werde, muß ich mir unter diesen Umständen erst noch überlegen – vielleicht nehme ich auch die genannten 26 SPD-Abgeordneten explizit von meiner Verteidigungsrede aus…
siehe auch:
- Krempl, Stefan: SPD-Abgeordnete bauen auf Karlsruhe bei der Vorratsdatenspeicherung, heise-online, 12.11.2007
Die oftmals sehr unkomfortable Situation eines normalstreblichen Bundestagsabgeordneten und den Balanceakt zwischen Fraktionszwang und eigener Meinung schildert sehr eindringlich SPD-MdB Marco Bülow:2
- Bülow, Marco: Düstere Aussichten, SZ-Magazin, 11. Oktober 2007
[Update: 13.11. – 18:15Uhr]:
Auch Thomas Knüwer kommentiert diese verschwurbelt-scheinheilige Art, sich aus der Verantwortung zu stehlen:
- Knüwer, Thomas: Der Klingelbeutel der SPD-Weicheier, 13.11.2007
3 Gedanken zu „Schizophrenie im Bundestag? SPD-Abgeordnete offenbaren haarsträubendes Amtsverständnis | Werkstattnotiz XXXII“