Wissenschaft ist in ihrem inneren Kern ein riesiger Diskurs. Denn Wissenschaft ist nichts anderes als die fortlaufend sich reproduzierende (Fach-)Diskussion der Forscher, die unter ständiger Bezugnahme auf die Ergebnisse ihrer Kollegen ihre eigenen Aussagen über den Zustand von Welt und Wirklichkeit entwickeln und formulieren. Und eines der wesentlichsten Elemente dieser kleinteiligen Argumentations- und Diskursschleifen ist das Zitat.
Wissenschaft funktioniert nur mit und durch Zitate. Wie steht es damit aber in Wissenschaftsblogs?
Wissenschaftliche Arbeit ist ohne Zitate schlicht undenkbar. Der kommentierende Verweis auf Schaubilder, Gedanken oder Thesen anderer Wissenschaftler ist pure Notwendig- und Selbstverständlichkeit. Und wenn man im wissenschaftlichen Kontext zitiert, dann hat das so wenig mit einem Plagiat zu tun, wie meine Bleistiftkritzeleien mit einem Gemälde Rembrandts.
Doch wie verhält es sich mit Zitaten im Kontext des Web 2.0? Oder konkreter: gelten dieselben Spielregeln wie für die konventionelle Wissenschaft auch für wissenschaftliches Bloggen?
Anlaß für meine kurzen Überlegungen ist der Fall von Shelley Batts, die derzeit an der University of Michigan im Feld der Neurowissenschaften promoviert. Und: Shelley ist zugleich Autorin des Blogs „Retrospectacle„. In diesem hatte sie am 24. April 2007 auf einen Artikel des „Journal of Science of Food and Agriculture“ Bezug genommen. Sie hatte kommentiert und eine Tabelle und eine Meßkurve in ihren Blogbeitrag eingefügt. Dies alles selbstverständlich unter Angabe der Quelle – ein Vorgang, wie er also in der Wissenschaft zum Alltag gehört und bis zu diesem Zeitpunkt auch für Shelley Batts in ihrem Blog üblich war.
Kurz darauf erhielt sie jedoch eine unerfreuliche Mail; als Absender war eine Anwaltskanzlei vermerkt und der Inhalt der Mail lautet kurz und knapp:
„If these figures are not removed immediately, lawyers from John Wiley & Sons will contact you with further action.“ [Quelle: The Scientist]
Vom Schreiben der Wiley-Anwälte eingeschüchtert, entfernte Shelley Batts die Schaubilder aus dem Beitrag, informierte aber Bloggerkollegen über den Vorfall. Binnen weniger Tage thematisierten dutzende Blogs ihre Situation und kurz darauf trudelte ein Entschuldigungsschreiben bei Shelley ein. Absender diesmal: die „Society of Chemical Industry„, die Herausgeber des Fachmagazins ist. Es sei ein Versehen eines einzelnen Mitarbeiters gewesen, im Wortlaut:
„We apologize for any misunderstanding. In this situation the publisher would typically grant permission on request in order to ensure that figures and extracts are properly credited. We do not think there is any need to pursue this matter further.“ [Quelle: The Scientist]
Zweifelhafte Buchproduktion: Copy&Paste von Wikipedia
Somit konnte jedenfalls diese Geschichte zu den Akten gelegt werden. Nun wurde freilich ein anderer pikanter Fall publik. In der Kritik diesmal kein Blogger, sondern der Verlag „John Wiley & Sons„. Genau! Derjenige Verlag, der im April voreilig juristische Geschütze auffahren wollte, um eine wissenschaftlich korrekt zitierende Bloggerin einzuschüchtern. Der Stein des Anstoßes: das Buch „Black Gold: The New Frontier in Oil for Investors“ des Wiley-Autors George Orwel.1 Orwel hatte darin zwei komplette Seiten mit einem Wikipediaeintrags gefüllt, allerdings ohne auf seine Quelle zu verweisen. Ein banales Plagiat also.
Einer der Wikipedia-Autoren hatte seine eigenen Passagen nun in dem Buch entdeckt und reklamiert. Kleinlaut gab inzwischen der Wiley-Sprecher bekannt, daß dies unbeabsichtigt geschehen sei und in zukünftigen Auflagen diese Seiten nicht nochmals gedruckt würden. Ein schwacher Trost, aber ein Punktsieg für die Wikipedia und das Web 2.0.
Zitieren ist essentiell für alle Blogs. Dabei gilt: jeder Blogbeitrag muß mehr als 50% „Eigenproduktion“ enthalten.
Kommen wir also zur Ausgangsfrage zurück: dürfen Blogger zitieren? Antwort: natürlich dürfen sie das und wenn es um wissenschaftliche Artikel geht erst recht.
Grundsätzlich (und für alle Blogs!) gilt: erstens sind die Quellen jeweils peinlich genau anzugeben, zweitens – und dies wird häufig mißachtet – der eigene Beitrag muß mindestens (!) genauso lang sein, wie die zitierte Passage. So lautet eine Faustregel, mit deren Hilfe die meisten juristischen Klippen des Urheberrechts zuverlässig zu umschiffen sein sollten. Da man diese Regel durchaus im Hinterkopf behalten sollte, sei sie nochmals klarer formuliert: innerhalb eines Blogbeitrags (egal ob wissenschaftlich oder nicht) dürfen fremde Passagen nicht mehr als 50% des Gesamtumfangs ausmachen.2
Bei allen, die das beherzigen, klappt es auch mit dem Nachbarn… ;-)
Linkempfehlungen:
- Braiker, Brian (2007): Credit Where Credit Is Due, Newsweek, 19.11.2007
- Gawrylewski, Andrea (2007): For blogger: A threat, then an apology, The Scientist, 2.5.2007
Und ein aktueller Artikel von Shelley Batts:
- Batts, Shelley: Wiley, Wikipedia (and I), Via Newsweek, Retrospectacle [Scenceblogs.com], 19.11.2007
Weitere Hinweise zu rechtlichen Aspekten des Bloggens und des Web 2.0:
- Wissenswerkstatt: Das riskante Geschäft des Bloggens » Über die Kunst, ein korrektes Impressum zu erstellen, 9.6.2007
4 Gedanken zu „Zweierlei Maß » Welche Regeln gelten für Zitate in wissenschaftlichen Blogs? | Werkstattnotiz XXXVII“
Ehrlich gesagt sehe ich durchaus ein Problem, Bilder und Graphiken aus Veröffentlichungen einfach mal so rauszuschneiden und zu verwenden. Das ist anderer Leute Eigentum.
Ich handhabe das grundsätzlich so, dass ich den Kram verwende und den Autoren Bescheid sage. Ich bin nur ein einziges mal an den Publisher (Nature) verwiesen worden, und der hat mir dann geschrieben, dass die Genehmigung der Autoren völlig ausreichend sei. Widersprochen hat noch nie jemand.
Aber mitteilen sollte man den Leuten das schon, allein schon aus Gründen der Höflichkeit.
Außerdem lehrt die Erfahrung, dass viele Autoren sich drüber freuen und oft auch bessere oder neuere Bilder zur Verfügung stellen. So bin ich zum Beispiel an die Abbildungen in meinem Beitrag über die Afar-Senke gekommen.
@Fischer:
Wie ich ja oben versucht habe darzustellen, ist es im wissenschaftlichen Kontext prinzipiell unabdingbar, daß man zitiert. Wenn es um Textzitate geht, so besteht darüber auch kein Zweifel, daß dies erlaubt ist (allerdings eben freilich immer unter peinlich genauer Einhaltung der Regeln und Angabe der Autoren).
Für mich ist, ich gestehe, ein Schaubild oder eine Tabelle (wenn sie eben die Ergebnisse einer fremden Studie veranschaulicht) ebenfalls Bestandteil des wiss. Diskurses und insofern ab dem Zeitpunkt der Veröffentlichung nicht mehr „Eigentum“ von bestimmten Autoren. Diese haben die Urheberrechte, aber wenn ich bspw. ein Schaubild von Kollegen kritisieren möchte, brauche ich sie nicht um Erlaubnis zu fragen, ob ich denn die Graphik verwenden darf. Ich mache mir deren graphische Darstellung ja nicht zu eigen, sondern nehme kommentierend, kritisch, wertend darauf Bezug.
Daß Dein Vorgehen (nämlich standardmäßig um Erlaubnis nachzufragen) vorbildlich ist, gebe ich gerne zu. Ich bin aber eben der Meinung, daß es nicht um Eigentumsrechte geht, sondern um Urheberrechte und die werden (wenn ich wissenschaftlich korrekt verfahre) niemals verletzt.