Rückschlag für die Gentherapie » Erneuter Leukämiefall bei klinischer Studie | Werkstattnotiz L

Die Perspektiven für Kinder, die mit einer als »SCID« bezeichneten Störung ihres Immunsystems auf die Welt kommen, sind sehr schlecht. Denn »SCID« ist die Sammelbezeichnung für sog. »schwere kombinierte Immundefekte« und die betroffenen Kinder können nur unter absolut keimfreien Bedingungen überleben. Die einzige erfolgversprechende Therapie ist eine Blutstammzelltransplantation, für die allerdings häufig kein geeigneter Spender zur Verfügung steht. Seit einiger Zeit richten sich nun die Hoffnungen auf die Gentherapie: allerdings ist nach früheren Rückschlägen nun erneut ein Junge an Leukämie erkrankt.

Die Idee ist faszinierend: bei allen Varianten der "schweren kombinierten Immundefekte" (SCID) verhindert ein Gendefekt, daß sich aus den hämatopoetischen Stammzellen die wichtigen T-Lymphozyten entwickeln. Und ohne diese T-Lymphozyten ist die gesamte adaptive Immunabwehr außer Gefecht gesetzt.1 Wenn man allerdings genau diese fehlerhaften hämatopoetischen Stammzellen ersetzt bzw. eine korrekte Genvariante in die Zellen einschleust, dann bilden sich auch die erwünschten T- und B-Immunzellen.

Erste vielversprechende Therapie-Versuche 1999/2000 in Paris

Bereits 1999 hatte ein Team um Prof. Alain Fischer am Hôpital Necker des Enfants Malades in Paris versucht, genau diese Idee umzusetzen. Bei 11 Kindern, die an der X-SCID2 erkrankt waren, entnahmen die Mediziner Stammzellen um sie mit sog. Retroviren zu "impfen". Die Retroviren fungieren als Genfähren und sollen die korrekte Version des Gens ins Genom der Stammzellen schleusen. Was im Modell und in den Tierversuchen funktionierte, hatte auch bei den klinischen Studien Erfolg: bei den solchermaßen behandelten Jungen bildeten sich tatsächlich die T-Lymphozyten, die Immunabwehr kam in Gang und die kleinen Patienten konnten das Isolationszelt verlassen. 

Um die korrekten Gensequenzen in das Zellgenom einzuschleusen werden Viren »umprogrammiert«, die als Genfähren dienen. Aber genau diese Retroviren sind vermutlich verantwortlich für die Leukämiefälle.

Doch 2 Jahre später mußten die Forscher einen traurigen Rückschlag hinnehmen: insgesamt 4 der 11 Jungen erkrankten an Leukämie. Daraufhin wurden weltweit die meisten Studien abgebrochen. Als Sündenbock wurden die Retroviren – die »Gentaxis« – entdeckt. Sie stehen seitdem im Verdacht, daß sie – obwohl selbst harmlos –  Mutagenesen in den Zellen hervorrufen, in deren Folge die T-Zellen außer Kontrolle geraten können.

Bislang ist freilich noch keine Möglichkeit bekannt, um die viralen Vektoren zielgerichtet dazu zu bringen, ihre Fracht genau an den erwünschten Stellen abzuladen. Daß ihr relativ unkontrolliertes Einschleusen negative Effekte – eben die Leukämien – haben könnte, wurde anfangs kaum in Erwägung gezogen. Daß man dieses Risiko unterschätzte, hat freilich einen einfachen Grund: die Tierversuche, die als Grundlage der Risikoabschätzung herangezogen wurden, endeten nach spätestens 5-6 Monaten. Die Leukämiefälle bei den klinischen Studien traten aber erst nach 2-3 Jahren auf. 

Wieder ein Leukämiefall bei britischer Studie

In den letzten Jahren hatte nun eine Gruppe um Adrian Thrasher und Bobby Gaspar vom "Institute of Child Health" in London einen neuen Versuch bei der gentherapeutischen Behandlung der X-SCID unternommen. Die ersten Ergebnisse waren positiv, jetzt aber muß auch die britische Studie ihren ersten Leukämiefall verzeichnen. Wie das Ärzteblatt heute berichtet, wurde nun bei einem drei Jahre alten Jungen Leukämie diagnostiziert. Den anderen neun Kindern soll es Berichten zufolge gut gehen. 

Inzwischen ist klar: die Tierversuche wurden zu schnell abgebrochen. Nach 6 Monaten gab man Entwarnung. Eine Studie von 2006 zeigte aber, daß die Auffälligkeiten sich auch im Tierversuch erst nach 10 Monaten zeigen.

Auch dieser neuerliche Rückschlag kann nicht wirklich verwundern: erst vergangenes Jahr hatte eine US-Studie im Tierversuch nachgewiesen, daß 1/3 der Versuchstiere nach einer Gentherapie an Lymphomen erkrankte. Zu diesem Zeitpunkt war die Behandlung der zehn Jungen innerhalb der britischen Studie aber bereits abgeschlossen. Deutlich wird, daß die potentiellen Nebeneffekte der Gentherapie (bzw. des Einbringens von Gensequenzen mittels Viren) lange Zeit unterschätzt wurden. Die 2006 publizierte Studie verweist darauf, daß es sich aber vermutlich nicht nur um "technische" Probleme handelt – dessen ungeachtet haben die britischen Forscher für 2008 einen neuen Anlauf angekündigt: sie haben ein neues "Protokoll" entwickelt, das mit einem anderen Virus arbeitet. Es bleibt abzuwarten, ob hier die Mißerfolgsrate geringer ausfällt…

[Update – 20.12.2007 | 11:00Uhr]

Noch eine kurze Anmerkung aus wissenssoziologischer Sicht:

Interessant ist, daß die Forschergruppe um Alain Fischer in Paris keineswegs fahrlässig handelte. Die vorgeschriebenen Prozeduren, die sorgfältige Prüfung der Wirkmechanismen und eventueller Nebenwirkungen in Tierversuchen (1998/1999) wurden offenbar recht gewissenhaft ausgeführt. Und im Ergebnis wurde (vermeintlich!) abgesichertes Wissen produziert: daß nämlich die Wirksamkeit der gentherapeutischen Behandlung von SCID bestätigt ist, negative Effekte allerdings kaum zu erwarten seien. Das Tierversuchsstadium dauerte 6 Monate. 

Wie oben skizziert mußte sich die französische Medizinergruppe nach 2-3 Jahren eines Besseren belehren lassen: 4 der 11 behandelten Kinder entwickelten leukämieähnliche Tumore. Erst die neuerliche Überprüfung im Jahr 2005 bestätigte den Verdacht: auch in den Tierversuchen ließen sich selbstverständlich durch die Gentherapie induzierte Tumore finden.3 Ca. 1/3 der Versuchstiere entwickelte Lymphome – dies allerdings eben erst durchschnittlich 10 Monate nach der Behandlung. [vgl. N.-B. Woods, V. Bottero, M. Schmidt, C. von Kalle, I. M. Verma: Therapeutic gene causing lymphoma In: Nature 7088/440/2006. S. 1123, Abstract]

Deutlich wird: Wissenschaftliche Studien stehen immer in der Gefahr Wissen zu produzieren, das sich zu diesem Entstehungszeitpunkt nicht als Irrtum identifizieren läßt. Denn wie lange hätte man die Versuchstiere weiter beobachten sollen? 8, 10, 12 Monate? Wäre es nicht auch denkbar, daß selbst die Versuchstiere erst nach 18 Monaten die Krebswucherungen zeigen? Und auf der anderen Seite stehen (das sollte man nicht vergessen) schwer kranke Patienten, für die die Therapie oftmals der letzte Rettungsanker ist. Hier möchte man wohl kaum mit den verantwortlichen Medizinern tauschen…

 


Links:

  1. Von Geburt an müssen die Kinder von allen Keimen abgeschirmt werden.  Durch sterile Isolationszelte sollen Infektionen verhindert werden, denn Lungenentzündungen oder Meningitis verlaufen meist tödlich. []
  2. Bei dieser Unterform der SCID liegt eine  Mutation im Interleukin-2-Rezeptor-Gen (IL2RG) vor. Und diese Mutation ist auf dem X-Chromosom lokalisiert, weswegen nur Jungen betroffen sind. []
  3. Wie oben ausgeführt sind dafür allem Anschein nach die als Genfähren eingesetzten Retroviren verantwortlich. []

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