Was wäre ein Jahresrückblick ohne eine Auflistung der besten Bücher? Genauso sieht es das TIME-Magazine und hat in seiner umfassenden Toplisten-Revue nicht nur belletristische Bestseller sondern auch preisgekrönte und erfolgreiche Sachbücher erfaßt. Wobei es – das vorweg – keine Bestsellerliste ist, sondern eher als eine Liste derjenigen Bücher zu verstehen ist, die nach Meinung der Literaturredakteure am bemerkenswertesten waren.
Was auffällt: dezidiert (populär-)wissenschaftliche Bücher sind keine darunter. Die Politik (egal ob Einblicke in Geheimdienste oder oberste Gerichte) steht hoch im Kurs. Daneben ist das Umweltthema sehr weit vorne plaziert: einmal wird spekuliert, wie sich die Welt wohl entwickelte, wenn sich die Menschheit mit einem Schlag selbst abschafft – das andere Mal wird ein Lebensstil (derjenge der "locavores") beschrieben, der einen schonenden Umgang mit der Natur zum Leitprinzip erhebt. Daneben finden sich Biographien und Erinnerungen von berühmten und weniger berühmten Personen, aber der Reihe nach…
Sachbücher-Top-10
+1. Alan Weisman: The World Without Us | dt.: Die Welt ohne uns, Piper-Verlag
Kaum erstaunlich, daß in dem Jahr, in dem die Weltgemeinschaft registrierte, daß die ökologische Frage eines ihren zentralen Probleme darstellt, ein Buch auf Platz 1 steht, das genau ein solches Szenario entwirft. Alan Weisman – vielfach preisgekrönter Journalist – unternimmt ein Gedankenexperiment und nimmt die Leser mit auf die Reise in die Zukunft, wenn die Menschheit plötzlich verschwunden sein wird.
Wie schreitet die Erosion (oder: Renaturierung?) voran? Wie lange bleiben unsere Häuser bestehen, was überdauert von unserer Zivilisation? Welche Nutznießer gibt es nach dem Niedergang des Homo Sapiens?
Sicher ein lesenswertes Buch im Zeitalter der Klimakatastrophe und anderer menschengemachter Zivilisationsrisiken.
+2. John Richardson: Life of Picasso: The Triumphant Years, 1917-1932
Dieser dritte Teil der monumentalen Picasso-Biographie von John Richardson beschreibt die Phase, in der sich Picasso vom Bohemian zum etablierten, beachteten Künstler wandelte. Den Zeitraum, in dem Ruhm, Hochzeit und Affären das Leben des einzigartigen Künstlers bestimmten, beschreibt Richardson mit profunder Sachkenntnis. Und – was ja bei Biographien nicht selbstverständlich ist – Richardson glänzt nicht nur durch intime Vertrautheit mit seinem Gegenstand, sondern genauso durch seinen herausragend lesbaren Stil.
Eine Künstlerbiographie, wie man sie sich spannender und tiefgründiger kaum vorstellen kann.
+3. Ishmael Beah: A Long Way Gone: Memoirs of a Boy Soldier | dt.: Rückkehr ins Leben
Das Schicksal der Kindersoldaten – nach UNICEF-Schätzungen werden weltweit 300.000 Kinder als Soldaten mißbraucht – ist meist nur ein Randthema in der Berichterstattung über Krisen und Unruhen. Anfang der 90er Jahre war Ishmael Beah zwölf Jahre alt, als in Sierra Leone der Bürgerkrieg ausbrach und er in diese perverse Kriegsmaschinerie hineingezogen wurde. Heute lebt Beah in New York, arbeitet für Human Rights Watch und hat ein Buch über seine Erlebnisse geschrieben.
Die Süddeutsche Zeitung schrieb:
"Es gab noch nie ein Buch, das das Leben eines afrikanischen Kindersoldaten aus dessen Sicht erzählt. Ohne Pathos, ohne Übertreibung, ohne altkluge Reflexion, ohne Schuldbekenntnis, nur geschildert, in einer einfachen und deshalb umso fesselnderen Sprache."
+4. Tim Weiner: Legacy of Ashes: The History of the CIA | dt. CIA. Die ganze Geschichte.
Tim Weiner ist Journalist und einer der besten Kenner der Geheimdienste. Der Pulitzerpreisträger sichtete für sein vorliegendes Werk über 50 000 Dokumente in den Archiven von Geheimdiensten, des Pentagon und anderen Stellen. Er nahm dabei Einblick in Geheimpapiere und führte dutzende Interviews mit ehemaligen Agenten, Poltikiern und anderen Geheimnisträgern.
Herausgekommen ist eine umfassende Darstellung dieses sagenumwobenen Geheimdienstes; Weiner skizziert dessen Macht, die Praktiken der einzelnen Akteure und die Verwicklungen vom Korea-Krieg bis zum 11. September. Und er deckt auch auf, daß die Informationsbeschaffung (auch für die CIA) immer ein schwieriges, riskantes Geschäft bleibt, das stets auch Mißlingen kann.
+5. Alex Ross: The Rest is Noise: Listening to the Twentieth Century
Alex Ross ist der Musikkritiker des "New Yorker" und entführt die Leser in die Welt der klassischen Musik, in die Welt der Komponisten von Weltrang und diejenige der Dirigenten, die deren Werke maßgeblich interpretierten. Über Richard Strauss bis zu Schostakowitsch, von Jan Sibelius bis hin zu Arnold Schönbergs avantgardistischer Zwölftonmusik – Ross nähert sich den Größten der klassischen Musikwelt mit Bewunderung, aber ohne falschen Respekt. Und schon allein der Titel ist umwerfend, oder?1
+6. Steve Martin: Born Standing Up: A Comic’s Life
Der Schauspieler Steve Martin blickt zurück auf seine außergewöhnliche Karriere. Auf seine Anfänge, in denen er die britischen Komiker – allen voran Monty Python – bewunderte und auf die Höhepunkte seiner Laufbahn in den 70er und 80er Jahren.
"The writing is evocative, unflinching and cool. When Martin takes a scalpel to his life, what you feel is the precision of the surgeon more than the primal scream of the unanaesthetized patient…Born Standing Up is neither fanfare nor confession. It gives off a vibe of rigorous honesty. With lots of laughs." –Richard Corliss, Time Magazine
+7. Barbara Kingsolver: Animal, Vegetable, Miracle: A Year of Food Life
Barbara Kingsolver ist Biologin und Schriftstellerin, führte ein bis dato abwechslungsreiches Leben und nennt einen Mann und zwei Töchter ihr Eigen. Das wäre kaum erzählenswert, wenn Barbara Kingsolver nicht ein kleines Experiment mit ihrer Familie gestartet hätte: als sie von Tucson/Arizona irgendwo nach Virginia umzogen, krempelte Barabra die Ernährungsgewohnheiten radikal um. Man lebte ohnehin auf einer Farm und fortan kam nur noch Essen auf den Tisch, das man selbst gepflanzt, gezüchtet und geerntet hatte.
Diese Erlebnisse schilderte sie – wenn man den Rezensenten glauben mag – in unheimlich liebenswerter und kurzweiliger Art: sie argumentiert sehr überzeugt für diesen neuen Lebensstil, schreibt aber gleichzeitig auch überaus humorvoll über diesen neuen "American Way of Life". Und für diese Bewegung gibt es auch schon einen Namen: "locavores" bezeichnen sich diese Anhänger. Ihr Motto: "eat locally".
Wann kommt die deutsche Übersetzung auf den Markt? Wenn der Titel in Ökoläden und in einschlägigen Milieus keinen reißenden Absatz findet, dann weiß ich auch nicht weiter…
+8. Jeffrey Toobin: The Nine: Inside the Secret World of the Supreme Court
Der "Supreme Court" – das oberste Gericht der USA – ist eine Welt für sich. Außenstehende haben kaum einen Einblick in das Geschehen und so agieren die Richter und Mitarbeiter dieser Institution weitgehend unterhalb der öffentlichen Wahrnehmungsschwelle. Jeffrey Tobin, versierter Journalist, hat hinter die Kulissen geblickt und beschreibt die Richter als heldenhafte Anhänger der Gerechtigkeit, die aber gleichzeitig allzu menschliche Schwächen offenbaren, die von Selbstüberschätzung, Arroganz bis zu Eitelkeit und Überempfindlichkeit reichen…
+9. Elyn R. Saks: The Center Cannot Hold: My Journey Through Madness
Bücher über die Schicksale von psychisch Erkrankten gibt es viele. Aber nur wenige sind wie dasjenige von Elyn R. Saks. Saks ist hochintelligent, brillante Juristin mit Yale-Diplom. Und: sie leidet an Schizophrenie. Sie schilderte ihre Kindheit, den Zeitpunkt der Diagnose und ihr Leben mit und gegen diese Erkankung. Das TIME-Magazin fand dieses Buch herausragend.
+10. Kate Braestrup: Here If You Need Me. A True Story
Als Kate Braestrups Mann bei einem Verkehrsunfall starb und sie mit vier kleinen Kindern hinterließ, begann sie sich stärker in ihrer Kirche zu engagieren, wurde Kaplanin und setzt sich seitdem für die Kranken, Armen und Benachteiligten ein. Ein Buch, das vielleicht typisch amerikanisch ist, oder?
So, das sind sie, die Top10 der "nonfictional Books" des Jahres 2007. Was wäre wohl im deutschsprachigen Markt als erwähnenswert erachtet worden? Eva Hermans unsägliches reaktionäres Frauenbild sollte es ja hoffentlich auf keine Topliste schaffen.
Mich wundert übrigens, daß es Richard Dawkins mit seinem erfolgreichen "Gotteswahn" nicht auf die Liste geschafft hat. Ist das ein Zugeständnis an die Kreationisten unter den TIME-Lesern?
Ich könnte mir ja vorstellen, daß Rüdiger Safranski mit seiner Annäherung an die Romantik(er) weit vorne gelandet wäre ("Romantik. Eine deutsche Affäre"). Oder auch das mutige Aufklärungsbuch über die neapolitanische Mafia von Roberto Saviano ("Gomorrha. Reise in das Reich der Camorra"). Aber sonst? Hattet Ihr andere Favoriten?
Empfehlungen für Listenliebhaber:
- Schott, Ben (2008): Schotts Sammelsurium 2008. Bloomsbury.
- Ankowitwsch, Christian (2006): Dr. Ankowitschs Kleines Konversations-Lexikon. Goldmann.
- Wallechinsky, David & Wallace, Amy (2006): Das große Buch der Listen. Wissenswertes, Kurioses und Überflüssiges. Ullstein.
- Schott, Ben (2005): Schotts Sammelsurium Essen & Trinken. Bloomsbury.
- Wenn das kein phänomenaler Albumtitel ist? ;-) [↩]
5 Gedanken zu „Die wichtigsten Sachbücher des Jahres 2007 | Ranglisten des Jahres 2007 – III“
Also von denen werden sicherlich ein Drittel bis die Hälfte auf meinem Wunschzettel landen :-)
Die 1. auf jeden Fall und die 5. würde ich vielleicht auch wegen dem Titel lesen ;-) (obwohl klassische Musik nicht so mein Ding ist).
Zu Richard Dawkins: das Buch erschien in den USA schon 2006! (aber das erinnert mich daran, dass das schon seit Wochen auf meinem Nachttisch liegt und endlich gelesen werden will/soll!)
@Julia:
Danke für den Hinweis – klar, Dawkins erschien schon ein Jahr früher im Original und wurde erst letztes Jahr anläßlich der deutschen Ausgabe bei uns nochmals breit rezipiert. Hatte nicht dran gedacht.