Man sollte nicht unterschätzen, welche Macht in unseren Blicken liegt. Wenn wir fremden Menschen begegnen, altbekannte Personen wiedertreffen oder einfach den Blick umherstreunen lassen: wir taxieren, wir sortieren und wir "bedeuten".
Wir weisen dem Angeblickten Bedeutung zu; mal mehr, mal weniger. Ein verschlafenes, unrasiertes Gesicht lehrt uns genauso viel, wie eine zerissene Hose oder die Frisur, die signalisiert, daß der letzte Friseurbesuch schon längere Zeit zurückliegt.
Und mit unseren Blicken bedeuten wir demjenigen, den wir anblicken, was wir von ihm halten und wir vergewissern uns gleichzeitig selbst, was wir von unserem Gegenüber halten wollen. Der beiläufige, alltägliche Blick ist das Instrument, das soziales Prestige zuweist und unser Verhalten, sowie unser Miß- oder Vertrauen steuert. Und die Art und Weise wie wir angeblickt werden, läßt uns in der einen oder anderen Weise agieren. Der mürrisch-skeptische Blick provoziert andere Verhaltensweisen, als wenn wir in offen-neugierige Augen blicken.
Die subtile Macht des Blicks: Glauben wir, was wir sehen – oder sehen wir, was wir glauben?
Die Sprachspielerin entzückt mit einem wunderbaren Vorschlag, der gleichzeitig eine Entstigmatisierung der latent Verrücktgewordenen, der marginalisierten Nischenexistenzen unserer Gesellschaft mit sich brächte. Ihre Anregung zielt auf die Situationen, in denen wir scheinbar grundlos in Selbstgespräche verwickelte Zeitgenossen beobachten und wir durch näheres Hinsehen erst abklären müssen, ob es sich um einen Geschäftsmann handelt, der gerade telefonierend, mit Knopf im Ohr die nächsten Geschäfte anbahnt oder ob wir einen derjenigen armen Schlucker vor uns haben, die mit sich selbst murmelnd dahinschlurfen und die wohl eher keine Verwendung für ein Handy hätten.1
Entstigmatisierung von Selbstgesprächen: Headsets für alle!
Und wie ordnen wir die jeweiligen Personen den beiden Gruppen zu? Genau: indem wir nach einem verdächtigen Kabel oder einem Headset suchen, das uns dieses irritierende Verhalten erklären könnte. Fehlt dieses äußere Indiz, so heften wir die Person wohl oder übel in der Kategorie "armer Irrer" ab. Die Sprachspielerin gibt zu denken:
Jetzt habe ich mich – bei allem Respekt – gefragt, ob das nicht ein Therapieansatz sein könnte: diese traurigen Gestalten, die laut mit sich selbst sprechen, allesamt mit Headsets auszustatten, damit es immerhin so wirkt, als seien sie ziemlich normal, als telefonierten sie nur? Wäre das nicht im Sinne einer sozialen Wiedereingliederung? Das Kabel vom Ohr müsste ja nicht einmal zu einem Handy führen, es reichte völlig, wenn es in irgendeiner Tasche verschwände (möglichst nicht in der Plastiktüte).
Dunkle Anzüge wären auch nicht schlecht, aber so ein Knopf im Ohr auf jeden Fall ein Anfang, manche Geschäftsleute ziehen sich ja auch schonmal etwas hipper an. Vielleicht würde man die traurigen Menschen dann für abgefahrene Profis aus der Werbung halten: man hätte jedenfalls keine Angst mehr vor ihnen, würde nicht mehr über sie lachen, man ginge ihnen nicht mehr aus dem Weg, höchstens Mitleid hätte man noch ein bisschen.
Oder sollte man doch lieber die, die meinen, andauernd mit Headset auf der Straße wild gestikulierend telefonieren zu müssen, zum Psychiater schicken?
Obwohl ich auch die letzte Überlegung sympathisch fände – nämlich die übereifrigen Telefoniefreaks mal zur Therapie zu schicken – , halte ich die Strategie der Camouflage, also des irreführenden Spiels mit Bedeutungen, für spannender. Wie wäre es, wenn Geschäftsleute zum Businessmeeting ihre Unterlagen in der ALDI-Tüte transportierten?
Arbeiten wir doch an der Entschubladisierung der Welt: wann kommt der erste Professor mit lackiertem Bürstenhaarschnitt in die Uni?
Sollten wir – anstatt immer nur die Erwartungen2 zu bestätigen – nicht besser daran arbeiten, immer wieder neue Fährten zu legen, die ins Nichts führen? Also in einer Art und Weise handeln und auftreten, die gar nicht das sein will, was sie zu sein vorgibt?
Allerhöchste Zeit also, um diese allgegenwärtigen Routinen, diese permanente Schubladisierung der Welt, die wir durch unser Umherblicken erzeugen, aufzubrechen und zu sabotieren! Liebe Studenten, steht früh auf, noch bevor das Morgenkäuzchen schreit, wascht & rasiert Euch, holt den Konfirmandenanzug aus dem Schrank und geht hinaus in die morgendliche Welt und entdeckt und fühlt, wie ihr angesehen und behandelt werdet – wie ein neuer Mensch?
Link:
- Die Sprachspielerin: Knopf im Ohr, 17. Januar 2008
- Das Photo stammt von User "juandpaola" von stock.xchng [↩]
- Der Umwelt an uns und diejenige, die wir an uns selbst haben [↩]
3 Gedanken zu „Anti-Diffamierungskampagne » Headsets für alle | kurz&knapp 16“
Ich hab heute schon mal den Anfang gemacht und anstatt des obligatorischen Kletterrucksacks eine Aldi-Tüte mit in die Kletterhalle genommen. Allerdings in kletterüblicher Funktionskleidung und schnittbedürftigen Haaren. Das nächste mal dann in Anzug und frisch frisiert ;o) Rasieren geht aber zu weit!
@Oli:
Sehr vorbildlich! Man könnte sich dann – anstatt mit dem Rad oder dem öffentlichen Nahverkehr zur Kletterhalle anzureisen – auch überlegen, ob man nicht ein Taxi nimmt oder besser noch eine Stretchlimousine mit getönten Scheiben anmietet.
Aber für den Anfang ist das ja schonmal ganz gut. Jeder hat mal
unrasiertklein angefangen…