Machen Süßstoffe dick? » Wenn mit dicken Schlagzeilen fragwürdige Erkenntnisse verkauft werden | Werkstattnotiz LXIII

Zucker_01b.jpgLiest man die Ratschläge von Medizinern und Ernährungsexperten, so ist die Ernährung selbst zu einer Wissenschaft geworden. Wer seinen Body-Mass-Index nicht im Schlaf aufsagen kann, ist entweder furchtbar schlecht im Kopfrechnen oder ihm ist seine Gesundheit vollkommen gleichgültig. Aber möglicherweise lebte man deutlich gesünder und entspannter, wenn man all die Ernährungstipps einfach ignorieren und stattdessen genau das essen würde, worauf man gerade Lust hat?

Und es gäbe zweifellos einen weiteren Vorteil, wenn man die einschlägigen Nachrichten zu neuesten Erkenntnissen in Sachen Ernährung und Gesundheit einfach überblättern würde: man müßte sich nicht über Meldungen ärgern, die mit dicken Schlagzeilen über den dünnen Informationswert der Meldung hinwegtäuschen. Ein wunderbares Beispiel hierfür sind die heutigen Artikel zu einer aktuellen Süßstoff-Fütterungsstudie an Ratten – ihr Tenor: Süßstoff macht dick. Dabei sind die Indizien für diese Behauptung mehr als bescheiden…1

Essen Sie was Sie wollen, aber sparen Sie sich die Ernährungs- und Medizinberichte der Onlineportale. Zum Recherchieren sind die dortigen Redakteure offenbar zu beschäftigt…

Bequemlichkeit statt Recherche

Im Prinzip bin ich ja manchmal schon froh, wenn die verehrten Kollegen des Wissenschaftsjournalismus wenigstens die halbe Wahrheit schreiben. Dennoch stellt sich die Frage, weshalb die Redakteure tagtäglich Agenturmeldungen vollkommen unkritisch abtippen. Wobei: wenn die Pressemitteilungen wenigstens abgetippt würden, dann dämmerte es dem einen oder anderen Redakteur womöglich, daß die Geschichte, die er gerade „schreibt“ noch etwas tiefgehender recherchiert werden müßte. Aber, da man ja mit „Copy&Paste“ viel schneller am Ziel ist, wird selten überlegt und häufig jede Menge Informationsverwirrung gestiftet.

So wie im aktuellen Fall: denn heute liest man quer durch die verdächtigen Magazine die Meldung, daß „Süßstoffe dick machen“. SpiegelOnline vermeldet „Ernährung: Süßstoffe machen dick“ und bei Focus lautet die Überschrift: „Süßstoff macht doch dick„. Kein Wunder, daß die Fachblätter „Men’s Health“ („Dickmacher Süßstoff„)2 und „fit for fun“ („Süßstoffe machen dick„) auch auf den Zug aufspringen. 3

Und der interessierte Leser erfährt fast überall gleichlautend:

„Wer schlank sein möchte, will Kalorien einsparen. Wenn man zu Süßstoffen greift, passiert jedoch genau das Gegenteil: Der Körper wird durch die kalorienlose Süße so verwirrt, dass er sogar noch an Gewicht zulegt.“ (So der Einstieg bei SpOn)

Hört sich das nicht alles nach einer eindeutigen Angelegenheit an? Wenn es so einfach nur wäre…4

Zwar lassen sich die Studien-Ergebnisse von Susan Swithers und Terry Davidson von der Purdue-Universität durchaus in diese Richtung deuten, aber als tatsächlicher „Beleg“ für die Aussage, daß Süßstoff dick macht, taugen diese Ergebnisse beim besten Willen nicht. Denn anstatt sich die marktschreierische Überschrift „Süßstoff macht dick“ auszudenken, hätte man sich doch bitte ein wenig mehr bemühen können, um die Leser und Verbraucher angemessener zu informieren.5

Aber zu einer vollständigen Information hätten zumindest folgende (Zusatz-)Informationen gehört:

  1. Zuerst hätte man an prominenter Stelle darauf verweisen müssen, daß es sich um eine Fütterungsstudie an Ratten (!) handelte. (Diese Info findet sich bei den Artikeln fast immer irgendwo im hinteren Teil. Die eiligen Leser, die nur die ersten Absätze zur Kenntnis nehmen, erfahren davon nichts…) Es ist aber bekannt, daß man nicht ohne weiteres von Nagern auf Menschen rückfolgern darf.
  2. Zweitens ist es (aus methodischer Sicht) bedenklich und erwähnenswert, daß die Studie an gerade mal 27 Ratten durchgeführt wurde. Auch diese geringe Zahl der „Probanden“ stützt nicht unbedingt die Glaubwürdigkeit.
  3. Drittens: in der Studie wurde eine Hälfte der Ratten mit Joghurt gefüttert, der mit Zucker gesüßt war. Die andere Hälfte bekam Joghurt, der mit dem Süßstoff Saccharin versetzt wurde. Es gibt aber auch andere Süßstoffe (z.B. Aspartam, Acesulfam oder Cyclamat) Die Ergebnisse können also auch hier nicht ohne weiteres verallgemeinert werden.
  4. Am unverständlichsten ist aber die Tatsache, daß die heutige Meldung so dargestellt wird, als sei damit die negative Wirkung von Süßstoffen zweifelsfrei belegt. Das ist aber überhaupt nicht der Fall! Die Rattenstudie steht nämlich im Widerspruch zu vielen anderen Studien, die durchaus eine hilfreiche Wirkung von Süßstoffen bei der Gewichtskontrolle belegt haben!

Warum wird in keinem der heutigen Artikel auch nur mit einer Silbe darauf eingegangen, daß die Studie von Swithers und Davidson keineswegs im Einklang mit anderen Befunden steht? Mag oder kann man sich nicht erinnern, daß man in den letzten Monaten genau die anderslautenden Meldungen geschrieben hatte? Hat man so ein schlechtes Gedächtnis?

Desinformation und Kurzzeitgedächtnis

Dabei gibt es jede Menge Studien, die sich eben gar nicht mit der heute propagierten These vertragen: Das beginnt mit einer Studie, die 160 Frauen verschiedenen Alters über zwei Jahre hinweg beobachtete und günstige Effekte der kalorienreduzierten Diat ergab.6 Und es endet mit einer Metastudie aus dem letzten Jahr, in der Adam Drewnowski von der University of Washington und France Bellisle von der Universität Paris gleich eine ganze Vielzahl von verschiedenen Studien ausgewertet und verglichen hatten: und Drewnowski und Bellisle kamen zum Ergebnis, daß kalorienreduzierte Süßungsstoffe sehr wohl geeignet sind, um das Körpergewicht zu kontrollieren oder zu reduzieren.7

Die These „Süßstoffe machen dick“ steht im Widerspruch zu zahlreichen wissenschaftlichen Studien. Die Wissenschaftsredaktionen halten das nicht für erwähnenswert.

Fest steht also nur, daß die aktuelle Studie einige Fragen aufwirft. Die Süßstoffe kurzerhand als Buhmann auszurufen, ist aber vollkommen verfehlt und wirft allein ein schlechtes Licht auf die Profession der Agenturmeldungsnachplapperer. Anscheinend zählt ausgewogene Berichterstattung nicht viel, knackige Schlagzeilen aber umso mehr. Denn klar – wenn man seriös und gewissenhaft arbeiten würde, dann hätte man maximal so formulieren können:

„Nahrungsmittel mit dem künstlichen Süßstoff Saccharin können möglicherweise zu einer Gewichtszunahme führen, wenn man die Ergebnisse einer Studie, die an Ratten durchgeführt wurde, auf den Menschen überträgt. Diese Studienbefunde stehen allerdings im Widerspruch zu anderen Forschungsergebnissen.“

Aber das liest sich ja nicht mehr so toll wie die Meldung, die man in Wahrheit lesen durfte…

Wirklich irritiert bin ich aber v.a. vom schlechten Gedächtnis der Redakteure. Denn wie kann man einfach so eine Meldung raushauen, ohne sich selbst darüber zu wundern, daß man vor kurzem noch genau das Gegenteil schrieb? Denn bspw. bei Focus las man am 28. September 2007 noch folgendes:

Süßstoffe regen den Appetit nicht an

„Süßstoffe sind nicht gefährlich, sondern für Personen, die abnehmen oder Übergewicht vermeiden möchten, im Rahmen einer ausgewogenen Ernährung eine sinnvolle Alternative zu Zucker“, sagt Isabelle Keller. Außerdem haben die Ersatzstoffe gegenüber Zucker oder Honig noch einen Vorteil: Sie verursachen keine Karies.

Seltsam, daß man offenbar nicht mal die eigenen Texte zum selben Thema parat hat…

Mein Rat: lesen Sie die Meldungen von Focus, Stern, Spiegel und Co. besser nicht. Lesen Sie lieber Blogs. Und kochen Sie mal wieder was Vernünftiges. Ob mit oder ohne Süßstoff, sei Ihnen überlassen. Wobei: wenn sie den Einkaufsweg zu Fuß oder per Rad zurücklegen, dann können sie sich das kolorienreduzierte Zeugs auch sparen. ;-)

[Update: 12.02.2008 | 0:55 Uhr]

Drüben im Mahlzeit-Blog von Stefan Jacobasch wird die verworrene Süßstoffgeschichte nun auch auseinandergepflückt. Und Stefan weist darauf hin, daß (was kaum verwunderlich ist) in diesem Zusammenhang manche Autoren und Studien mit großer Vorsicht zu genießen sind. Denn: manche Studien werden direkt oder indirekt von der Lebensmittel- oder Süßstoffindustrie finanziert.

Außerden verweist Stefan auf einen Artikel der Los Angeles Times zu der Sache. Und dieser Artikel könnte den hiesigen Redakteuren wunderbar als Anschauungsmaterial dafür dienen, wie es richtig geht. Schon allein die Überschrift des empfehlenswerten Artikels: „Saccharin may lead to weight gain“ – Na also! Erstens steht da der Name des betreffenden Süßstoffs, zweitens signalisiert das unscheinbare „may“, daß ganz offensichtlich noch einige Fragen offen sind. So wünsche ich mir das. ;-)

[Update: 18.2.2008 | 21Uhr]

Nun hat sich übrigens auch die FAZ des Themas bzw. der fraglichen Studie angenommen. Und – hier großes Lob an die Kollegen – es wurde immerhin recherchiert. Kein Wunder also, daß Magnus Heier in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung auf dasselbe Ergebnis kommt, wie es hier schon in der Wissenswerkstattfünf Tage fürher zu lesen war: die Süßstoff-Frage ist immer noch offen.

Heiers Text ist lesenswert, hat er doch einige Experten um O-Töne gebeten. Und kaum verwunderlich, daß hier widersprüchliche Infos zu hören sind. Aber (wie ich oben ja auch reklamiert habe) Magnus Heier kommt zum Schluß:

Bleibt also die Frage offen, ob Süßstoffe – von Aspartam bis Saccharin – nun schlank machen oder dick. „Vermutlich ist schon die Frage falsch“, sagt Axel Preuß. „In der Ernährungsforschung sind pauschale Aussagen, die für alle Menschen gleichermaßen gelten, schlicht Unsinn.“ Seltsam, dass dann ausgerechnet 27 Ratten eine klare Antwort geben sollen.

  • Heier, Magnus: Das süße Rätsel. Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 17.02.2008, Nr. 7 / Seite 62

Leseempfehlungen:

  • Im Fischblog von Lars Fischer bekommen Sie auch die Gegenargumente zu den Agenturmeldungen präsentiert. In den letzten Tagen beleuchtete Lars bspw. die These von der lebensverlängernden Wirkung des Olivenöls bzw. der vielgepriesenen Mittelmeerdiät und eine neue Studie, die offenbar Indizien liefern sollte, daß Olivenöl doch ungesünder sei als gedacht… [Details: hier und hier].

Anstatt Light-Produkte zu konsumieren, kochen Sie doch einfach was leckeres. In den Kochbüchern der Basic-Cooking-Serie finden sich jede Menge guter Rezepte:

  • Indien Basics. Alles, was ein Küchenguru braucht – von Ayurveda bis Bollywood
  • Fish Basics. Alles, was schwimmt und was man damit machen kann
  • Vegetarian Basics. Alles, was man braucht zum Glück – außer Fisch und Fleisch

Und allen Wissenschaftsredakteuren seien immer noch folgende Bücher empfohlen:

Studien:

  • S.E. Swithers, T.L. Davidson (2008): A Role for Sweet Taste: Calorie Predictive Relations in Energy Regulation by Rats, in: Behavioral Neuroscience, Volume 122, Number 1, doi: 10.1037/0735-7044.00.0.000
  • Bellisle, F. and Drewnowski, A. (2007). Intense sweeteners, energy intake and the control of body weight. in: European Journal of Clinical Nutrition. 61, 691-700. (Available at: http://www.nature.com/ejcn/journal/v61/n6/abs/1602649a.html)
  • Blackburn, G. L., et. al. (1997): The effect of aspartame as part of a multidisciplinary weight-control program on short- and long-term control of body weight. in: American Journal of Clinical Nutrition. 1997. Vol. 65. 409-418.
  1. Das Photo stammt übrigens von stockxchng (User:lusi) []
  2. Bei Men’s Health erfährt man fett gedruckt „Lange Zeit vermutet, jetzt bestätigt: Der süße Ersatzstoff für Zucker lässt die Fettpolster wachsen.“ []
  3. Und natürlich ist diese Meldung auch Thema in einigen Blogs… so z.B. hier, hier und in einem „Gesundheitsblog„. []
  4. Übrigens: mir geht es nicht darum, ob die Erklärung für die negativen Effekte der Süßstoffe plausibel sind. Ich halte sie nämlich tatsächlich für bedenkenswert. Es geht nur darum, daß etwas als wissenschaftliche Erkenntnis „verkauft“ wird, was mehr als umstritten ist. []
  5. Hinweis: Ich bin überhaupt kein Freund von Light-Produkten und Süßstoffen. Aber man sollte dennoch mit triftigen Argumenten hantieren und nicht solche Schnellschüsse produzieren. []
  6. vgl. Blackburn, G. L., et. al. The effect of aspartame as part of a multidisciplinary weight-control program on short- and long-term control of body weight. American Journal of Clinical Nutrition. 1997. Vol. 65. 409-418.) []
  7. Bellisle, F. and Drewnowski, A. (2007). Intense sweeteners, energy intake and the control of body weight. European Journal of Clinical Nutrition. 61, 691-700. (Abstract verfügbar unter: http://www.nature.com/ejcn/journal/v61/n6/abs/1602649a.html) []

7 Gedanken zu „Machen Süßstoffe dick? » Wenn mit dicken Schlagzeilen fragwürdige Erkenntnisse verkauft werden | Werkstattnotiz LXIII“

  1. Seltsame Studien in der Tat. Wenn man sich das so ansieht (z.B. hier oder hier) könnte man den Eindruck gewinnen als käme es öfters mal vor, dass in den Labors sich ein paar Forscher langweilen, bis einer von ihnen dann eine Restverwertung vorschlägt: „Hey, wir haben doch noch ein paar Ratten und etwas Saccharin da. Lass uns doch etwas damit machen.“ Zum Thema widersprüchliche Ernährungswissenschaft kann ich nur Jeffrey Steingarten („The Man Who Ate Everything“) empfehlen, der sich nicht zu schade ist, auch die dämlichsten Diät-, Gesundheits- etc. „Erkenntnisse“ am eigenen Körper auszuprobieren. Darin gibt es auch ein Kapitel über Hunger, Sättigung und Süßstoffe. Sehr unterhaltsam das Buch.

    Antworten
  2. Ob Süßstoff nun dick macht oder nicht, das ist mir relativ egal. Es wäre viel wichtiger darauf zu schauen, ob er auch gesund ist oder eben nicht! Z.B. Aspartam…..

    Antworten

Schreibe einen Kommentar