Der erste Tag auf der re:publica08 geht allmählich zu Ende. Ich sitze nun – einigermaßen konferenzerschöpft – in der Lounge. Neben mir blättert sich "der gute" bosch durch das Programm der weiteren Tage und rings um mich befinden sich immer noch viele, viele Menschen in intensive Gespräche vertieft.
Worüber man sich wohl unterhält? Über das miese Berliner (Regen-)Wetter oder doch über den letzten Workshop? Ich selbst habe durchaus einige interessante Vorträge und Diskussionen gehört. Über manches werde ich wohl zu gegebener Zeit auch ausführlicher berichten und eigene Gedanken anschließen, anderes war dagegen weniger bemerkenswert, oder sagen wir es auf journalistisch: "es versendet sich".
Ein Lob der vergeßlichen Gesellschaft
Aber zur Sache: der Tag begann mit der Keynote von Viktor Mayer-Schönberger. Und der Tag begann gut. Mayer-Schönberger, mit Professur in Harvard und nettem österreichischem Akzent ausgestattet, skizzierte einige Überlegungen unter der Überschrift "Nützliches Vergessen".
Was möglicherweise kryptisch anmutet, ist leicht erklärt: es geht schlicht darum, daß digitale Informationen und Daten eben – wenn man diesen Begriff bemühen will – "nicht vergessen" werden. Soll heißen: Texte, Dokumente, Bilder und Videos, die einmal im Internet verfügbar sind, werden unverändert auch in vielen Jahren abrufbar sein. Einen "Index", daß es sich dabei um alte (und möglicherweise) veraltete Infos handelt, tragen diese Dokumente nicht.
Diese Feststellung ist nur auf den ersten Blick trivial. Und vielleicht haben wir uns auch schon daran gewöhnt, daß unsere Blogtexte nicht nur heute lesbar sind, sondern (selbst wenn wir sie löschen) auch in Zukunft lesbar bleiben. Denn: was einmal im Cache-Speicher von Google gelandet ist, das gibt Google nicht mehr her. Und das ist nur ein Beispiel, auf welche Weise Informationen auch noch in Jahrzehnten verfügbar bleiben, obwohl es dem Urheber/Autor möglicherweise nicht mehr lieb ist, daß diese Dokumente mit seinem Namen verknüpft werden.
Internet: das ewige Gedächtnis?
Wo liegt das Problem? Zunächst ist es eine simple Feststellung bzw. Beobachtung, die Mayer-Schönberger an einigen Beispielen illustriert hat: die Beobachtung nämlich, daß es sowohl biologisch-physiologisch, als auch sozial bislang noch nicht vorgesehen ist, daß vergessen ausbleibt (und "vergessen" meint sukzessives oder vollständiges Verschwinden aus unserem Gedächtnis).
Kurz: jedes Individuum, jede Person, aber auch jede Gesellschaft, operiert unter der Bedingung ihrer eigenen Vergeßlichkeit. Mit welchen Kommilitonen wir früher um die Häuser gezogen sind, welche unvorteilhafte Frisur wir noch vor Jahren hatten:1 das alles möchten wir häufig am liebsten vergessen. Im analogen Zeitalter erinnerten uns bisweilen vergilbte Photos an solche "Ausrutscher" – wenn heute allerdings ein solches Photo online gestellt wird, wird es auch noch in Jahrzehnten genauso "frisch" sein – und ein vermeintlich falsches Bild von uns vermitteln.
Reputation Management – dringender denn je
Mayer-Schönberger führte einige Beispiele an. Etwa den Fall der Lehramtsstudentin Stacy Snyder, der nach Abschluß ihrer Examen der Eintritt in den Schuldienst bzw. die Aushändigung ihrer Examensurkunden verweigert wurde. Die Begründung: der Dekan ihrer Uni hatte ein Photo von Stacy im Internet entdeckt. Dieses zeigte sie mit einem Becher in der Hand, schräg kostümiert bei einer Faschingsveranstaltung und mit der Bildunterschrift: "betrunkener Pirat". Das reichte, daß der Dekan zum Schluß kam, Stacy sei für den Schuldienst ungeeignet…
Dieser Fall illustriert, worauf es Mayer-Schönberger ankommt: wir leben in einer Gesellschaft, in der Vergessen die Norm ist, Erinnern die Ausnahme. Unsere technischen Speichermöglichkeiten, die digitalen Archive kehren dieses Verhältnis um. Das Vergessen, das eben eine wichtige Funktion im sozialen Kontext erfüllt, ist technisch besiegt. Die Frage: wie sollen, wie können wir damit umgehen?
Hier schließen sich hochspannende Fragen an. Klar ist: wir brauchen Mechanismen, die gewährleisten, daß wir die Souveränität über unsere Erinnerung zurückgewinnen. Denn mit den allmächtigen digitalen Wissensarchiven steht uns eine Zeit bevor, die uns fortwährend mit Erinnerungen, Daten, Infos konfrontiert und uns (oder unsere Umwelt, Familie etc.) überfordert…
Digitale Zumutungen: Die Konfrontation mit Erinnerung
Wie man diese Aufgabe meistern könnte, ist schwer zu beantworten. Die Vorschläge, die Viktor Mayer-Schönberger vertritt, lassen sich auf die These zuspitzen: Daten müssen mit einem Verfallsdatum ausgestattet werden. Das klingt ungewohnt. Denn stehen uns nicht Giga- und Terabyte an Speichervolumen zur Verfügung? Warum diese Speicher nicht nutzen? Antwort: weil wir (jedenfalls wenn es um personenbezogene Informationen geht) schlicht nicht damit umgehen können.
Die Lösung: digitales Verfallsdatum?
Mayer-Schönberger skizzierte, daß andere Lösungen, die im Kontext des Datenschutzes diskutiert wurden, weniger vielversprechend seien. Dennoch: die Eigentumsrechte an digitalen Daten müssen geschützt werden. Und wichtig sei die Wahlfreiheit: wer seine digitalen Photos bis 2099 gespeichert wissen will, der soll dies tun können. Alle anderen können den Photos vielleicht irgendwann eine Lebensdauer von 10 Jahren gönnen – danach wird gelöscht.
Ich selbst habe ad hoc auch keinen praktikablen Vorschlag.2 Ich halte die Überlegungen aber grundsätzlich für bemerkenswert. Und für wichtig erachte ich auch, daß wir uns einer informationellen Endlichkeit bewußt werden sollten. Wie mögliche Lösungen aussehen können, um Informationen und Daten mit der fortscheitenden Zeit sukzessive zu "entwerten", weiß ich wie gesagt nicht.
Mayer-Schönberger betonte jedenfalls mehrmals einen Punkt: Aufbewahren, als stetes Erinnern, muß mit Aufwand verbunden sein. Es muß uns also etwas "kosten", eine Leistung abfordern, um alles unendlich verfügbar zu halten. Denn wenn digitales Erinnern zum Nulltarif möglich und selbstverständlich ist, dann werden wir künftig viele hausgemachte Probleme haben…
Es geht ihm also darum, daß wir die technischen Möglichkeiten weiter so gestalten, daß fortwährendes Erinnern, die unendliche Präsenz der (digitalen) Vergangenheit uns nicht erdrückt, überfordert oder im sozialen Miteinander vor unlösbare Probleme stellt. Ein wichtiger Punkt, wie ich finde. Und ein sehr guter Start in der re:publica’08.3
- Bei der Gelegenheit muß ich feststellen, daß in Sachen aufregender bzw. einprägsamer Frisur Sascha Lobo eindeutig den Punktsieg gegen mich errungen hat. ;-) [↩]
- Vielleicht haben die Leser gute Ideen? [↩]
- Und das war nun der längste Beitrag, denn ich unbequem sitzend, den Laptop auf den Knien balancierend, geschrieben habe. Aber dieser Beitrag war mir wichtig… [↩]
3 Gedanken zu „Die Unendlichkeit digitaler Informationen » Brauchen wir eine bewußte Kultur des Vergessens? | re:publica08 – II“
Der Google-Cache vergisst sehr wohl, sobald nämlich das Original eine Weile nicht mehr erreichbar ist.
Problematisch sind eher Firmen und Dienste, die das Web zur Archivierung von Dokumenten durchgraben, und sich nicht um die Wünsche der Ersteller scheren. Bei archive.org hat man es als Betreiber noch in der Hand, den Crawler auszusperren. Andere geben sich nicht als Crawler zu erkennen, und wer in wieviel Jahren noch auf deren Archive Zugriff hat, kann man nur raten.