Libet und die Folgen » Neue Runde in der Diskussion um den „freien Willen“ | kurz&knapp 29

Röntgenaufnahme SchädelEine neue Runde in der Diskussion um den freien Willen ist eröffnet. Diesmal sind es die Studienergebnisse von John-Dylan Haynes und seinen Kollegen vom Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig.

Dank bildgebender Verfahren konnten die Forscher ihre Probanden (bzw. genauer: die Stoffwechselaktivitätsmuster in deren Gehirnen) beobachten, während diese Entscheidungsaufgaben bewältigen mußten.

Wie die Wissenschaftler vorgestern in „Nature Neuroscience“1 berichteten, konnten sie anhand der Aktivitätsmuster im Bereich des frontalen Cortex vorhersagen, welche Entscheidung2 die Versuchsteilnehmer fällen werden, bevor (!) dies den Probanden selbst faktisch bewußt wurde.3

Diese Befunde bestätigen im wesentlichen die Libet-Experimente4 und eine Vielzahl ähnlicher Studien, aus denen – in meinen Augen voreilig und kurzschlüssig – herausgelesen wird, daß der sog. „freie Wille“ eine Illusion sei.

Wer entscheidet? Das Ich oder sein Gehirn?

Zu dieser Thematik ließe sich vieles sagen und ich habe auch schon des längeren einen umfassenden Artikel dazu in Vorbereitung. Weswegen ich die aktuelle Diskussion überhaupt aufgreife, ist ein kurzer Text, den Lars Fischer geschrieben hat. Und in diesem Text bringt Lars meinen Standpunkt in dieser Frage sehr gut auf den Punkt.

Ist die Aufregung um die Befunde der Hirnforschung nicht erstaunlich? Wie naiv sind wir denn, wenn wir uns überrascht davon zeigen, daß es auch vor- und unbewußte Anteile im Entscheidungsprozeß gibt?

Denn die große Aufregung um solche Befunde speist sich nach meinem Dafürhalten zu großen Teilen aus der unreflektierten Annahme, das Gehirn sei eine quasi-autonome Instanz, die uns Menschen fernsteuere. Und unser Gehirn – das der zweite Teil der Unterstellung – suggeriere uns lediglich, wir seien es, die entschieden. Im Ergebnis seien wir aber kaum anderes als eine willenlose, biologische Maschine.5

Ich bin mir einigermaßen sicher, daß wir in einigen Jahren auf der Grundlage eines besseren Verständnisses des Wechselsspiels zwischen Bewußtheit und dessen neuronaler Basis eine andere – weniger kontraintuitive – Lesart von der Hirnforschung präsentiert bekommen bzw. auch ein Stück besser akzeptieren können, daß es bestimmte kontraintuitive Befunde gibt, die aber keineswegs unser Selbstkonzept als denkende, handelnde und entscheidende Wesen umwerfen.

Bis dahin plädiere ich doch dafür, daß man mir und anderen Lesern der Wissenschaftsseiten den x-ten Aufguß der Meldung „Der freie Wille ist eine Illusion“6 ersparen möge. Denn zwar ist es unbestritten, daß viele neurologische Prozesse unbewußt, vor-bewußt oder unter-bewußt ablaufen, aber daß heißt doch überhaupt nicht, daß es nicht eine autonome Person wäre, die da agierte und handelte. Oder, wie es Lars sagt:

„Was uns hier angeblich fremdsteuert, ist aber unser eigenes Gehirn. Das Experiment erlaubt deshalb keine Aussage über den freien Willen, es zeigt lediglich: Das Bewusstsein ist nicht die allein ausführende Entität bei Entscheidungsprozessen.

Es ist der Mensch als Gesamtheit, der einen freien Willen hat oder nicht hat. Das Bewusstsein ist lediglich ein Teil des hochgradig integrierten Gesamtsystems Mensch. Anders kann es auch gar nicht sein, denn das Bewusstsein selbst ist aus der Evolution des Körpers hervorgegangen…“

Ich halte die Fortschritte der Neurowissenschaften für sehr spannend, allerdings kann über deren Messungen und Befunde nur der überrascht oder gar entsetzt sein, der das Bewußtsein als umfassende Kontrollinstanz mit Allzuständigkeit dachte. Für Freudianer sollten die provokanten Thesen von Singer, Roth und Co. doch kaum überraschend sein, oder?


Der empfehlenswerte Text von Lars:

Zwei Interviews zum Thema:

Die Pressemitteilung auf Eurekalert zur Studie von John-Dylan Haynes und seinen Mitarbeitern:

[Update 17:45 Uhr]

Fast zeitgleich hat kamenin einen ebenfalls lesenswerten Artikel zur selben Thematik eingestellt:

[Update: 13:30Uhr | 17.4.2008]

In einem interessanten Text in der heutigen ZEIT, geht Ulrich Schnabel auf die Experimente und ihre Implikationen ein. Er hat dazu John-Dylan Haynes besucht. Und dessen Erläuterungen sind dergestalt, daß sie sich weitgehend mit meiner Lesart decken. Zwar wurde in anderen Berichten Haynes durchaus so widergegeben, als argumentiere er gemäß einer Entweder-Oder-Logik, aber in der ZEIT liest sich das anders:

„Der Slogan »Freiheit oder Gehirn« ist ihm viel zu plump. Denn erstens sei das Gehirn ja Teil unserer Person; und zweitens müssten die Hirnprozesse konsistent sein mit all unseren Überzeugungen und Werten. »Wenn es manchmal heißt: ›Mein Gehirn hat so und so entschieden, ich kann nichts dafür‹, dann ist das Quatsch«, ärgert sich John-Dylan Haynes.“

Er erläuterte gegenüber Schnabel offenbar eindeutig, daß Bewußtsein und Gehirnprozesse eine untrennbare Einheit bilden und insofern sei die dichotomische Logik (daß der Wille, das bewußte Ich nur eine marginale Randgröße sein könne, wenn man doch eine zeitlich vorgängige Hirnaktivität messen könne) nicht angebracht.

Es ist also, zumindest wenn man Haynes folgt, eher ein Problem des Wissenschaftsjournalismus, denn eines der Forscher…



  1. Chun Siong Soon, Marcel Brass, Hans-Jochen Heinze & John-Dylan Haynes: Unconscious determinants of free decisions in the human brain, in: Nature Neuroscience, Published online: 13 April 2008 | doi:10.1038/nn.2112 []
  2. In den meisten Versuchssituationen mußten die Probanden sich entscheiden, einen Knopf entweder mit der linken oder rechten Hand zu drücken. []
  3. John-Dylan Haynes spricht selbst davon, daß eben die neuronale Bereitschaft bzw. Aktivität zeitlich der „gefühlten“ Entscheidung vorausgeht. []
  4. Bereits 1979 hatte der Neurophysiologe Benjamin Libet gezeigt, daß wenige Millisekunden bevor eine als „bewußt“ kognizierte Entscheidung gefällt wird, bereits ein „Bereitschaftspotential“ vorliegt. []
  5. Daß eine solche Lesart auch eine andere Sichtweise auf soziale Kategorien wie „Verantwortung“, „Schuld“ oder „Zurechenbarkeit“ erforderlich machen würde, liegt auf der Hand. Ich halte allerdings Diskussionen um die Konsequenzen der neurologischen Befunde für das Justizsystem zwar für interessant, aber für nicht wirklich relevant. []
  6. So wie hier in stern, Focus, SZ… []

12 Gedanken zu „Libet und die Folgen » Neue Runde in der Diskussion um den „freien Willen“ | kurz&knapp 29“

  1. @Fischer:

    Ja, Danke für den Hinweis. Als ich meinen Text eingestellt bzw. geschrieben habe, gab’s kamenins Artikel noch nicht.

    Ich stelle aber einmal mehr fest, daß in einer handvoll der hiesigen Blogs die Studie interessanter und vielschichtiger kommentiert wird, als in den doch nach Schema-F gearbeiteten Print- bzw. Onlineartikeln der verehrten Kollegen.

    Dort steht ja nichts falsches, allerdings ist es eben (der Zeitnot etc. geschuldet) doch fast immer nur der in Nuancen variierte dpa-Text. Und die immergleichen Überschriften („Ist der freie Wille eine Illusion?“) mag ich einfach nicht mehr lesen…

    Da lobe ich mir doch die Notizen von Dir und kamenin. Da gibt es immerhin eine echte Auseinandersetzung mit dem Sachverhalt und nicht nur die abgewandelte Pressemitteilung.

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  2. Die ewig gleiche schwarzweiße Rezeption des Themas in den meisten Medien ist auf Dauer schon ermüdend, das stimmt. Wobei der eigentliche „harte“ neurologische Aspekt dabei meistens nur gestreift wird, denn der Punkt, den du hier unter Fußnote 5 abhandelst, gilt als der interessanteste – weil er die reine Beobachtung in Handlungsmöglichkeiten umwandelt.

    Und daß sich Leute darüber die Köpfe heißreden können habe ich schon oft erlebt. Zumal wenn es um Themen wie Straftäter und deren Verantwortung geht. Ich sehe da teilweise Parallelen zu der in meinen Augen – zumindest in der bekannten „binären“ Schwarzweißform – ebenso wenig sinnmachenden Diskussion „sind`s die Gene oder doch die Sozialisation?“, wenns um Persönlichkeitsentwicklung geht.

    Ohne einen kompatibilistischen Ansatz ist aber beides meiner Ansicht nach eher fruchtlos.

    However… bin schon gespannt auf den „umfassenden“ Artikel :-)

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  3. Hallo,

    deinen Artikel habe ich sehr interessiert durch mein Gehirn verarbeiten lassen :-)

    Konzept Nr. 1:

    „All unser Tun, Handeln und Denken ist in Summe, das sich permanent selbst aktualisierende, Ergebnis all unserer emotional stark wahrgenommen Erlebnisse. Wie wir Dinge erleben hängt von unseren jeweils gegebenen biologischen Möglichkeiten ab.“

    Konzept Nr. 2:

    „Eine nicht begreif und verstehbare Wesenheit, lenkt jeden unserer Schritte, unser Schicksal ist also vorbestimmt und somit unabwendbar.“

    Konzept Nr. 3:

    „Ein biologischer hoch komplexer Mechanismus, der nicht nur zulässt als dieser durch sich selbst erkannt zu werden, sondern es sich noch dazu gestattet schon durch niedrigste elektromagnetische Felder und/oder Ströme von Aussen vorsätzlich resp. zufällig in seiner Funktion gestört zu werden.“

    Bezogen auf die verlinkten Interviews:

    Welche öffentlichen Interviews mit Akademikern kann man denn ernst nehmen? Dienen Sie denn tatsächlich der geistigen Wertschöpfung? Dienen sie nicht viel eher den Protagonisten selbst, die hiermit in Summe entweder lediglich das eigene (im Kontext eigentlich nicht existente) „Ego“ pflegen wollen, bzw. den verzweifelten Versuch in einer Welt aus Informationsmassen die kurzlebige Aufmerksamkeit von sog. Kapitalgebern auf sich zu lenken?

    Vielleicht steht bei all dem viel mehr auf dem Spiel als wir vertragen/akzeptieren können? Wie viel Wahrheit/Erkenntnis verträgt das Individuum/die Spezies wirklich? Stehen wir noch kurz vor der Grenze des ertragbaren, oder haben wir sie längst überschritten?

    Gruß

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  4. Der arme unschuldige Hitler! Und diese immer wieder neu aufflammende Diskussion um den freien Willen.

    Wie Michael Kostic richtig anmerkt: Hier gehts auch ein wenig um Forschungsgelder und Selbstmarketing! (Was ja auch nicht so ganz unfreiwillig ist).

    Weder können Wissenschaftler am Stirnrunzeln exakt erkennen, was jemand denkt, noch sind die groben „Aktivitätsmuster“ im Gehirn gleichzusetzen mit Handlungsentscheidungen. Benjamin Libet, auf den sich so viele Hirnforscher berufen, hat den freien Willen ja gerade nicht in Frage gestellt. Das ist nachzulesen in seinem späten Buch „Mindtime“. Er hat sich dort gegen die Deterministen, die ihn vereinnahmen wollen, heftig zur Wehr gesetzt. Der freie Wille ist für Libet das Veto, das jemand gegen einen aufsteigenden Wunsch (=Erhöhung des Bereitschaftspotentials) einlegen kann. Der aufsteigende Wunsch braucht ein paar Millisekunden, um bewusst werden zu können. Deshalb ist das Bereitschaftspotential eher da. Nach dem Bewusstwerden hat der Mensch aber Entscheidungsfreiheit im Sinne einer Abwägung: Mach ich das oder mach ich das lieber doch nicht. Nachzulesen in „Wir sind so frei“ in der Geo Wissen-Ausgabe „Sünde und Moral“ oder auch hier:

    http://www.autoren-reporter.de/index.php?option=com_content&task=view&id=113&Itemid=147

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  5. Hinweis:

    Es gibt einen interessanten Text in der heutigen ZEIT. Link und Hinweise habe ich oben im Text als „Update“ ergänzt.

    @xconroy:

    Ja, dieses ziemlich alternativlose Denken, also diese Argumentation, daß es entweder den autonomen, freien Willen geben könne oder eben das Gehirn, das selbsttätig „Entscheidungen“ treffe, ist ja auch das, was mich in den Berichten teilweise stört.

    Und du hast Recht: erinnert manchmal schon an die „nature-or-nurture-Debatte“, die für unser Verhalten zwischen den Polen „genetische Disposition“ oder „Sozialisation“ pendelt. Die Wahrheit liegt einfach doch in der Mitte. ;-)

    @Michael Kostic:

    Was die Interviews anlangt und die Frage, ob sich hier die Wissenschaftler nicht ohnehin nur im Lichte des öffentlichen Interesses sonnen, bin ich nicht so skeptisch. Klar gibt es Wissenschaftler, die so eitel sind und dann so provokativ auftreten, nur um überhaupt in den Medien aufzutauchen. Und ja, es gibt natürlich auch das Motiv, sich bzgl. der Mittelakquise darzustellen. (Wie auch Wolfgang Michal feststellt.)

    Aber: ich denke doch, daß zumeist es den Interviewten auch darum geht, ihre Fach, ihre Forschung verständlich zu vermitteln.

    @Wolfgang Michal:

    Ja, im Zshg. mit der Debatte werden teilweise schräge Parallelen hergestellt. Wenn jemand in die Diskussion einwirft, daß Massenmörder ja genetisch oder neurologisch darauf „geeicht“ wären, insofern moralisch nicht verantwortlich, so ist das natürlich nur schwer zu ertragen.

    Und ebenfalls ja: Libet betonte (so wie ich es immer gelesen habe) stets, daß eben die Möglichkeit eine Entscheidungshandlung doch noch unterbrechen zu können („Veto“) eben die Eingriffsmöglichkeit des bewußten Ichs darstellt. Hier ist der „freie Wille“ dann doch wieder eingeführt.

    Angeblich will John-Dylan Haynes genau diesen Punkt empirisch testen; ob also willentlich anders entschieden werden kann, als zunächst „angesteuert“…

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  6. @marc:

    „Aber: ich denke doch, daß zumeist es den Interviewten auch darum geht, ihre Fach, ihre Forschung verständlich zu vermitteln.“

    Das sehe ich doch auch so! Doch wie soll das unbedarfte Publikum hier differenzieren? Nimm doch einmal das von dir Verlinkte Interview mit dem sicherlich sehr ehrenwerten Herrn Singer.

    Für wen wurde dieses Interview gemacht?

    Tut mir wirklich leid, aber bei dieser Art der Darstellung von (in meinen Augen) simpelsten Sachverhalten, schalte ich dann auf „Dieses Werbeinterview präsentiert ihnen XYZ in Zusammenarbeit mit ZYX!“. Pardon, aber das ist in meinen Augen Vorschulniveau.

    Das hat ganz sicher weder Herr Singer noch das Thema selbst verdient, oder?

    Gruß

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