John R. Searle über Konzepte des freien Willens ::: Nachdenken über die Lernwirklichkeit an Schulen und Universitäten | Werkstatt-Ticker 19

Ticker.jpg» Wo die Freiheit nistet…

Es ist erst wenige Wochen her, daß die Debatten um die Existenz des freien Willens wieder neu aufgeflammt sind. Nachdem es einer Forschergruppe um John-Dylan Haynes gelungen war, die Entscheidungen von Probanden aufgrund von Aktivitätsmustern des frontalen Cortex vorherzusagen bevor (!) diese Entscheidung den jeweiligen Personen bewußt war, stand wieder einmal die Frage im Raum, wie denn unter diesen Umständen der Freiheitsbegriff aufrechterhalten werden könne.

Vor wenigen Tagen bin ich beim Philoblog auf ein spannendes Interview mit dem Philosophen John R. Searle zu genau dieser Thematik gestoßen. John R. Searle, seit 1959 (!) Professor in Berkeley, hatte sich bereits in den 60er Jahren mit seiner Sprechakttheorie international einen Namen gemacht. In den letzten Jahrzehnten hatte er sich mehr und mehr der philosophisch-analytischen Beschäftigung mit dem Phänomen Bewußtsein zugewandt.

Dabei steht er mit seiner Position quer zu klassisch-dualistischen Ansätzen,1 die einerseits eine biologisch-neuronale Infrastruktur, andererseits eine autonome Sphäre des Bewußtseins annehmen. Gleichzeitig wehrt sich Searle gegen reduktionistische Modelle, die mentale Zustande zwar 1:1 an neuronale Prozesse koppeln und als kausal determiniert erachten, die Handlungsfreiheit damit aber als vereinbar ansehen (=Kompatibilismus).

Für Searle hingegen – und ich kann diesen Ansatz gut nachvollziehen – ist Bewußtsein ein emergentes Phänomen. Kurz: Bewußtsein ist als Resultat neuronaler Prozesse anzusehen, aber nicht auf diese zu reduzieren.2

Das Interview mit Searle ist jedenfalls unbedingt eine Leseempfehlung:

„Denken Sie doch einfach an eine alltägliche Entscheidungsfindung. Im Restaurant bietet Ihnen der Kellner die Wahl zwischen Kalb und Rind an. Da werden Sie doch nicht antworten: „He, ich bin Determinist, ich warte jetzt mal ab, wie ich mich entscheide.“ Die Verweigerung einer freien Entscheidung funktioniert nur, wenn ich die Freiheit zur Verweigerung voraussetze. Wenn man sich weigert, seinen freien Willen einzusetzen, macht das nur Sinn, wenn man seinen freien Willen in der Verweigerung zum Ausdruck brachte.“

Mit solchen und anderen Gedankenspielen versucht Searle, sich den Weg zwischen verschiedenen Konzepten des freien Willens zu bahnen. Im Kern geht es ihm um die Frage: Gibt es eine Lücke, einen Bereich in dem prinzipiell Freiheit nisten könnte. Also einen Freiheitsspielraum zwischen den Faktoren, die meine Entscheidung beeinflußen einerseits3 und zwischen der faktischen Entscheidung andererseits, die unmittelbar eine bestimmte Handlung einleitet.

» Unterricht im digitalen Zeitalter

Immer wieder wird lamentiert, daß sich die Lebenswirklichkeit der heutigen Schüler- und Studentengeneration immer weiter von derjenigen ihrer Lehrer und Dozenten entferne. Während die Teenager virtuos mit SMS, ICQ, Chats, IPod und Internet umgingen, seien solche Techniken für viele ihrer Lehrer noch ein Buch mit sieben Siegeln.

Daß die „digital natives“4 keineswegs so selbstverständlich und spielerisch in den digitalen Welten unterwegs sind,5 habe ich in diesem Artikel skizziert. Gleichzeitig glaube ich, daß die Generationen keineswegs sich weiter voneinander entfernt haben als in früheren Zeiten. Dennoch lohnt es sich immer wieder, darauf hinzuweisen, daß sich der Umgang mit Medien in den letzten Jahren verändert hat. Lehrer und Dozenten, die sich mit solchen Veränderungen nicht auseinandersetzen, haben es verständlicherweise schwer.

Ein nachdenklicher kleiner Film, den ich bei Bildungsfutter aufgestöbert habe, stellt in diesem Zusammenhang hochinteressante Fragen. Etwa:

„Are you reaching your students?“, oder:

„How are you using the new WWW to teach your students?“

Und irgendwann kommt sogar die Frage „Do any of your students use Google?“ – In meinen Augen sehr sehenswert, auch wenn ich die Anregungen im letzten Teil6 nicht für so wahnsinnig revolutionär halte. Dennoch ein interessanter Clip, der bewußt macht, daß das Potential des Web überhaupt nicht ausgeschöpft wird.

 





  1. Ich hatte hier in der Eile zunächst dualistische und kompatibilistische Konzepte beide in einem Atemzug genannt und vermengt; das wurde in den Kommentaren berechtigterweise reklamiert. []
  2. Im Zshg. mit Emergenz ist auch dieser Werkstatt-Artikel zu Robert Laughlin interessant. []
  3. Meine physische und psychische Ausstattung samt den in ihr geronnenen Erfahrungen. []
  4. Die man meinetwegen auch „digital secondos“ apostrophieren darf. []
  5. Was mich ehrlcherweise selbst etwas erstaunt hat. []
  6. Dort geht es um den Einsatz des Handys im Unterricht. []

7 Gedanken zu „John R. Searle über Konzepte des freien Willens ::: Nachdenken über die Lernwirklichkeit an Schulen und Universitäten | Werkstatt-Ticker 19“

  1. Ich lese Searle gerne und mit Gewinn. Seine Ablehnung des Kompatibilismus in dem Interview ist klar formuliert, ohne gewundene Seitenstränge und Hintertüren. Aber ich habe nicht verstanden, wie sich die Dinge stattdessen verhalten sollen. „Emergenz“ scheint mir ein ziemlich schlechter Ersatz zu sein, eine Nebelwolke, in der man irgendwie etwas rettet, was man eigentlich über Bord geworfen hat. (Das ist mir auch in dem Interview mit Wolf Singer störend aufgefallen, in dem er sich gegen Habermas‘ Kritik verteidigt.) Ich nehme an, dass Searle (an anderer Stelle) mehr dazu zu sagen hat.

    Antworten
  2. Um mit Björn ins selbe Horn zu blasen: wer glaubt eigentlich heute noch daran, dass Bewusstsein, in dem Sinne wie wir es introspektiv und alltäglich wahrnehmen, die Vorstellung freien Willens inklusive, kein emergentes Phänomen ist? Jenseits von Metaphysik ist das doch inzwischen eine selbstverständliche Annahme, zumindest nach meiner Wahrnehmung. Die Kernfrage ist doch eher, woraus und wie es emergiert und wie wir die emergenten Eigenschaften beschreiben können.

    Das hier zitierte Gedankenexperiment geht doch den Freien Willen gar nicht an: eine willentliche Entscheidung, eine andere willentliche Entscheidung nicht zuzulassen — wenn man das Wörtchen frei nicht selber reinsetzt, berührt das die Freiheitsfrage eigentlich gar nicht.
    Eigentlich spricht diese Verwendung des Begriffs eher dafür, dass es sich hier um Freiheit nach dem Motto handelt: meine Entscheidung ist zu komplex in ihrer Selbstreflexion und Verschachteltheit mit sich selbst, der Umwelt und der Kultur, als dass ich es noch auseinanderfriemeln kann — begreife ich sie mal als frei. Mithin ein nicht wirklich passendes Argument gegen naturalistischere Theorien.

    Ich mag mich da auch irren, aber Kompatibilismus ist meines Erachtens etwas ganz anderes als Dualismus, diesem sogar entgegengesetzt. Deine Darstellung ist da etwas missverständlich, zumal Dualismus heute wohl alles andere als konventionell ist unter Philosophen wie Hirnforschern.

    Antworten
  3. So wie ich Searle verstande habe, will er nicht ausschliessen, dass es eine andere, nicht identifizierte Kraft (die er das Bewusstsein nennt) das deterministische Billiardspiel der Atome beeinflussen kann. Ist das nicht Dualismus in Reinform? Der Kompatibilismus hingegen stellt den Determinismus nicht in Frage, unterscheidet lediglich zwischen äusseren und inneren Ursachen und fungiert sozusagen als Krücke, die unsere Moralvorstellungen und unseren Verantwortungsbegriff auch bei Abwesenheit eines freien Willens unberührt lässt.

    Antworten
  4. @Björn:

    Ja, es wird hinreichend klar, daß Searle den Kompatibilismus für unbefriedigend hält. Daß stattdessen „Emergenz“ nur eine Chiffre ist, die viel im unklaren beläßt ist aber ebenfalls wahr. Ich habe oben ja davon geschrieben, daß Searle eine Lücke zwischen kausalen (chemisch-physiologischen) Bedingungsfaktoren und der bewußt erlebten Willensentscheidung behauptet – im Interview gibt er selbst zu, daß er dafür „noch keinen Begriff“ habe.

    Insofern ist es wohl kein Wunder, daß uns die Ausführungen doch ein wenig schwammig erscheinen – kamenin hat hier sein Unbehagen an Searles Ausführungen formuliert.

    @kamenin + Fragezeichner:

    Entschuldigt die schlampig-irreführende Darstellung von oben. Dualismus und Kompatibilismus sind verschiedene Konzepte. Ich wollte ja eigentlich nur auf das Interview mit Searle nochmals hinweisen (weil ich es bedenkenswert empfand) und habe schnell noch ein paar einleitende Sätze dazu hingeschrieben – allerdings dabei leider Äpfel und Birnen zusammengeworfen.

    Denn klar: dualistische Positionen ziehen einen Trennstrich zwischen Geist/Bewußtsein und Materie/neuronalen Strukturen.

    Anders verhält es sich beim Kompatibilismus, der zwar eine neuronale Bedingtheit der Willensentscheidungen konstatiert, dies aber nicht als Widerspruch zur Handlungsfreiheit konzeptionalisiert. D.h. – so wie ich es verstehe – der Determinismus wird zwar akzeptiert, allerdings werden (Handlungs-)Alternativen behauptet, so daß dadurch eine (Wahl-)Freiheit des Akteurs bestehen bleibt.

    Insofern stimme ich Dir, Fragezeichner vollkommen zu, wenn Du schreibst:

    …der Kompatibilismus stellt den Determinismus nicht in Frage…

    Daß Searle aber eine dualistische Position vertritt, sehe ich nicht so. Denn für ihn sind ja Geist und Materie nicht kategorial getrennt, sondern eng verzahnt. Das Bewußtsein ist für ihn ja dezidiert ein Phänomen, das neuronal fundiert ist.

    Worin freilich die spezifische Qualität der Bewußtseinsemergenz liegt, wird zumindest im Interview nicht klar. Hier hat kamenin (vgl. dazu seinen ausführlichen eigenen Beitrag) vollkommen recht.

    p.s.: Ich habe mir ausnahmsweise erlaubt, meine Ungenauigkeiten im Originalpost zu korrigieren.

    Antworten
  5. @Marc:

    Daß Searle aber eine dualistische Position vertritt, sehe ich nicht so. Denn für ihn sind ja Geist und Materie nicht kategorial getrennt, sondern eng verzahnt. Das Bewußtsein ist für ihn ja dezidiert ein Phänomen, das neuronal fundiert ist.

    Das ist ein interessanter Punkt. Und hier habe ich Searle auch nicht ganz verstanden. Sind es neuronale Prozesse, die das Bewusstsein hervorbringen? Oder schlägt sich das Bewusstsein lediglich in neuronalen Prozessen wider, manipuliert also in gewisser Weise das Gehirn? Wenn Searle ersteres annimmt, wozu Du ja zu neigen scheinst, dann ist mir unverständlich, wie er dann noch einen freien Willen annehmen kann.

    Antworten
  6. Soweit ich es verstanden habe, denkt oder hofft Searle, dass an irgendeinem Punkt ein Eingreifen in die neuronale Kausalität möglich ist. Aus welcher (möglicherweise nur dualistisch erklärbaren) Instanz das erfolgen und wie und warum das frei sein soll, lässt er offen.

    Antworten

Schreibe einen Kommentar