In den letzten Jahren durchläuft das wissenschaftliche Publikationssystem eine kleine Revolution. All die Fachartikel, die über viele Forschergenerationen ganz selbstverständlich auf Papier gedruckt wurden, werden inzwischen (auch) online publiziert.
Und diese digitale Verfügbarkeit von wissenschaftlichen Artikeln verändert selbstverständlich auch die Art und Weise des Umgangs mit ihnen.
Die Effekte der Allzeit-Verfügbarkeit von wissenschaftlichen Publikationen
Doch wie verändert sich die wissenschaftliche Arbeits- und Publikationspraxis, wenn man online in sekundenschnelle in riesigen Datenbanken recherchieren kann, anstatt mühsam in Bibliotheken nach den gewünschten Quellen zu suchen? Klar ist, daß inzwischen Online-Artikel mit einer höheren Wahrscheinlichkeit rechnen dürfen zitiert zu werden, als Artikel, die nicht digital verfügbar sind.
Befinden wir uns auf dem Weg hin zu einer Schmalspurwissenschaft?
Aber welche Effekte bringt diese digitale Publikationskultur außerdem mit sich? Der Wissenschaftssoziologe James A. Evans hat in der letzten Ausgabe von Science die spannenden Ergebnisse einer Untersuchung präsentiert, die den Veränderungen der akademischen Zitierkultur nachspürt.
Und sein Fazit ist erstaunlich:
Searching online is more efficient and following hyperlinks quickly puts researchers in touch with prevailing opinion, but this may accelerate consensus and narrow the range of findings and ideas built upon.
Führt die verführerische Allzeitverfügbarkeit von Onlinequellen, die Volltextsuche und das Springen von Link zu Link, tatsächlich dazu, daß immer weniger Artikel rezipiert und zitiert werden? Wie ist es – sollte Evans rechthaben – zu erklären, daß Autoren noch stärker als in früheren Tagen dazu neigen, sich auf immer dieselben Quellen zu beziehen? Wäre es nicht erstaunlich, daß ausgerechnet das angeblich so egalitäre Medium Internet durch die Hintertür doch nur wieder neue Autoritäten und gegenseitige Verstärkungseffekte nach sich zöge?
Über die Frage, wer, wen, wann zitiert
Alle, die diese Frage für nebensächlich halten, seien daran erinnert, daß die Publikations- und Zitierkultur für die Wissenschaft absolut maßgeblich ist. Denn schließlich ist die Rezeption eines wissenschaftlichen Beitrags ein wesentliches Qualitätsmoment der jeweiligen Fachdisziplin. Und die Rezeption ist am Citationsindex ablesbar – der neben dem Peer-Review-Verfahren insofern tatsächlich zur Absicherung von Standards dient.
Führt die elektronische Verfügbarkeit von Publikationen dazu, daß immer nur dieselben Artikel rezipiert werden?
Wenn aber allein die Tatsache, daß immer mehr Publikationen online verfügbar sind, dazu führt, daß wir die oben skizzierten Verzerrungseffekte haben, ist das sicher eine Entwicklung, die nicht unbedingt wünschenswert ist.
Denn gerade in Disziplinen, in denen die „Halbwertzeit“ von Publikationen recht gering ist und schon nach kurzer Frist der einzelnen Publikation kaum mehr Beachtung geschenkt wird, sinkt die „Chance“ von spannenden Publikationen überhaupt wahrgenommen zu werden, noch stärker. Wenn alle nur noch dieselben Artikel lesen und zitieren, ist das jedenfalls nicht im Sinne einer vielfältigen und v.a. innovativen wissenschaftlichen Kultur.
Dem Herdentrieb entgegenwirken?
Wie gesagt: die Ergebnisse von Evans sind irritierend – wenn sie zutreffen, sollte man sich ernsthaft überlegen, ob man hier geeignete Strategien ergreifen kann, um diesem „Herdentrieb“ entgegenzuwirken.
Bei Markus von „Relativ einfach“ und Bora Zivkovic von „Blog around the clock“ wird auch über diese Fragen diskutiert:
- Zivkovic, Bora: Electronic Publication and the Narrowing of Science and Scholarship. Really?, Blog around the clock, 19.7.2008
- Pössel, Markus: Wissenschaftliches Zitieren: Elektronischer Herdentrieb, Relativ einfach, 21.7.2008
- James A. Evans: Electronic Publication and the Narrowing of Science and Scholarship, Science 18 July 2008, Vol. 321. no. 5887, pp. 395 – 399, DOI: 10.1126/science.1150473
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5 Gedanken zu „Elektronische Publikationen als Totengräber akademischer Vielfalt? | Werkstattnotiz 105“
Wie so oft: Beides ist richtig. Wenn man die berühmte Long-Tail-Kurve betrachtet, sind zwei Bereiche besonders interessant: der Kopf, also die wenigen Dinge, die eine sehr große Reichweite, Aufmerksamkeit etc. bekommen, und der Schwanz, also die vielen Dinge, die eine sehr geringe Reichweite, Aufmerksamkeit etc. bekommen. Wenn die wissenschaftliche Publikationspraxis sich stärker im Internet abspielt, so wäre meine Vermutung, wachsen beide Bereiche deutlich an. Die wenigen Artikel oder Autoren mit großer Aufmerksamkeit können ihre Position deutlich ausbauen. Zugleich werden aber auch Artikel z.B. über Google oder wissenschaftliche Suchmaschinen sichtbar, die vorher niemand gelesen hätte. Insofern führt das Internet in diesem Fall möglicherweise zu mehr Konsens und Langeweile *und* mehr Dissens und Spannung.
Meiner Meinung nach wird sich das Problem bald von selbst lösen, nämlich dann, wenn digitale Publikationsarchive semantisch durchsuchbar sind. Im Moment haben wir ja den Flaschenhals, dass man zwar mit der digitalen Suche einen Haufen Ergebnisse bekommt, die Papers aber gar nicht alle lesen kann.
Da muss man als Leser nach nicht-inhaltlichen Kriterien vorselektieren, und das führt derzeit zum Matthäus-Effekt bei den Zitierungen.
Je spezifischer solche Datenbanken suchbar werden, desto weiter gestreut sind auch die Zitierungen. Und das wird in Zukunft kommen.
OA im Internet hat isomorphische Prozesse der Themenfindung, und Herausbildung gemeinsamer Positionen so beschleunigt, dass „strukturelle Löcher“ im globalen Wissenschaftsdiskurs unmittelbar geschlossen werden, immer mehr Leute an verschiedenen Orten dieselben Themen und Fragen diskutieren und mit denselben oder ähnlichen Ergebnissen aufwarten. Aber wollten wir genau das in den 1990er Jahren nicht unbedingt haben? War das nicht auch die Triebfeder für die ersten Datenbanken wie SOLIS und Foris, die heute selbstverständlich in jeder Bib vorhanden sind? Sind freie Zugänglichkeit zu wissenschaftlichem Wissen, Vergleichbarkeit der Ergebnisse, live-Übertragungen oder zeitnahe Bilder von Konferenzen nicht genau das, was globale Wissenschaftsdiskurse erst ermöglicht? Evans‘ Argument klingt wie: Lasst uns entlang der Weißwurstgrenze einen Wall über der A3 und der ICE-Trasse aufschütten, damit Wissenschaftler aus Süddeutschland wieder andere Ideen entwickeln als Wissenschaftler nördlich davon. OA im Netz bedeutet die Überwindung der Begrenzung durch institutionelle Begrenzungen vor Ort, Durkheim hätte seine Freude daran, aber Evans macht dabei nicht mit.
@Benedikt:
Ja, Du hast höchstwahrscheinlich recht bzw. Deine These klingt sehr plausibel. Wäre interessant in Erfahrung zu bringen, inwiefern tatsächlich der Long-Tail wissenschaftlicher Publikationen ebenso profitiert, wie die absoluten Topartikel, die, wie Lars richtig schreibt, einen verstärkten Matthäus-Effekt zu verzeichnen haben.
@Fischer:
Und neben „intelligenteren“ Suchroutinen, sollte ja die semantische Dimension durchaus durch Empfehlungssysteme ergänzt werden. Dann könnten/sollten ebenfalls spannende Papers profitieren, wie auch verstreute, bislang häufig übersehene Artikel mehr Resonanz erfahren.
@Tina:
Hmmm… ist lese Evans Studie (mir liegt ja auch nur wieder das Abstract vor) nicht so normativ. Seinen Befund halte ich ja (wie oben skizziert) für interessant und diskussionswürdig – und Benedikts Anmerkung führt m.E. auf die richtige Spur.
Daß die freie Verfügbarkeit von Onlineartikeln wünschenswert ist, darüber besteht für mich kein Zweifel. Aber über eventuelle kontraintendierte Effekte darf man ja auch debattieren. ;-)
Wenn ich mich in meinem chemischen Umfeld umsehe, dann machen doch tatsächlich viele Ähnliches. Das liegt einerseits daran, dass mit der forcierung „relevanter“ Forschung jeder in die Anwendungsnahen Themen drängt um überhaupt noch Drittmittel zu erhaschen. Einmal in dieser mittlerweile sehr bevölkerten Ecke angekommen testet man seine neuen Verbindungen auf Eigenschaften oder Effekte die von Vorreitern bereits publiziert wurden um zu sehen ob man vielleicht „besser“ ist. Das ist aufwendig, weil schon viel ausprobiert wurde. Da bleibt kaum Zeit oder besser gesagt: es ist nicht nötig sich eigene Tests auszudenken. Man ist ohnehin gut beschäftigt.
Jetzt wäre es vermessen zu behaupten ich verfolgte bewusst eine andere Taktik, aber aus Bequemlichkeit (um es nicht Faulheit zu nennen) bin ich sicherlich nicht der belesenste unter meinen Kollegen. Das kann dazu führen, dass man Zeit an einem bekannten Problem verschwendet. Es führt aber auch dazu, dass man zufällig aus purer Ignoranz den richtigen Weg einschlägt. Das gibt es sicherlich weniger, wenn man konsequent die vorhandenen Datenbanken nutzt.
Was durch online Artikel ganz weggefallen ist, ist die Inspiration durch einen Beitrag an dem man auf der Suche nach der richtigen Seite vorübergeblättert hat. Ich habe das Gefühl, dass der zufällige Blick (oder Fall) über den Tellerrand verloren geht.
Es kann natürlich sein, dass ich den Faktor Zufall zu unrecht
romantisiere und ein möglichst effektiver Ansatz der richtige Weg ist. Allerdings glaube ich, dass wirklich neue Entdeckungen zufällig sein müssen. Man kann ja schlecht auf etwas hinarbeiten was man nicht kennt. Demnach ist alles was Zufall minimiert kontraproduktiv. q.e.d.