Jede Schwangerschaft bringt Veränderungen mit sich. Plötzlich werden viele Selbstverständlichkeiten wieder zu Lebensfragen, die neu durchdacht, erörtert und entschieden werden müssen. Das hat mit der neuen, nun auf das heranwachsende Baby im eigenen Bauch erweiterten Verantwortung zu tun. Und mit Risikoabwägungen, die – wie so oft – ziemlich kompliziert sind. Mit der Schwangerschaft stellen sich einfach furchtbar viele Fragen: Welche Hebamme ist die beste? Was darf ich essen? Wieviel Stress darf ich mir zumuten? Und darf ich in ein Flugzeug steigen? Handelt eine schwangere Frau vielleicht sogar unverantwortlich, wenn sie mit dickem Babybauch einen Langstreckenflug unternimmt?
Im Hintergrund dieser Überlegungen steht die Höhenstrahlung, die jeder Flugpassagier abbekommt, egal ob schwanger oder nicht. Die Frage ist nur, ob diese Tatsache überhaupt relevant für schwangere Frauen ist. Sollte eine werdende Mutter die gebuchte Flugreise stornieren? Viele Schwangere tun das jedenfalls, weil sie irgendwo von der Strahlengefahr gehört haben und kein Risiko eingehen wollen.1
Schließlich ist es ja vollkommen nachvollziehbar: Wer aus Rücksicht auf sein Baby mit dem Rauchen aufhört, Alkohol meidet und sich während der Schwangerschaft ganz bewußt gesund ernährt, der wird auch weiteren gesundheitlichen Risikofaktoren aus dem Weg gehen. Und wenn so ein Langstreckenflug durch die potentiell schädigende Strahlung eben ein Risiko darstellt, dann ist es ja nur logisch auch auf Flugreisen während der Schwagerschaft zu verzichten.
Wäre es dann vielleicht sogar sinnvoll, den Fluggesellschaften die Beförderung von Schwangeren zu verbieten? Oder sollten wenigstens große Warnhinweise auf jedes Flugticket gedruckt werden: Vorsicht, mit jedem Flug gefährden sie ungeborenes Leben! ;-)
Doch ganz so einfach ist die Sache nicht, denn schließlich könnte es doch auch ganz anders sein: Vielleicht ist es ja sogar riskanter, wenn man brav auf dem Boden bleibt?
Zusätzliche Strahlenexposition bei Flugreisen
Wie gefährlich ist Fliegen? Sollte man Schwangeren evtl. Flugreisen verbieten?
Um diese Frage zu beantworten, ist es ganz hilfreich, wenn man sich einmal vor Augen führt, welcher Art von Strahlung wir denn überhaupt ausgesetzt sind und was wir uns bei einer Flugreise so zumuten.
Die Strahlendosis, die wir im Flugzeug abkriegen, hängt von einigen Faktoren ab und variiert deshalb innerhalb einer gewissen Bandbreite. Entscheidend sind natürlich die Flugdauer, dazu aber auch Flughöhe, die Flugroute und die Sonnenaktivität.2 Dennoch lassen sich in etwa Werte für typische Flugrouten angeben.
Die Strahlenexposition wird üblicherweise in der Einheit μSv/Zeiteinheit (Mikrosievert pro Zeiteinheit) angegeben. Und beim Flug von Frankfurt nach Rom kommen da ca. 3-6 μSv zusammen. Der Flug von Frankfurt nach Rio de Janeiro schlägt mit 17-28 μSv zu Buche.3
Was haben wir aber nun davon, wenn wir wissen, daß wir auf dem Weg nach Rom maximal 5-6 Mikrosievert an kosmischer Strahlung abbekommen haben? Ist das viel und vielleicht kritisch für einen Embryo im Mutterleib?
Strahlendosis pro Jahr: Kosmische und terrestrische Quellen
Um die Sache einschätzen zu können, muß man die Strahlenexposition während des Flugs natürlich in Beziehung setzen mit der durchschnittlichen Belastung durch andere Quellen. Denn grundsätzlich ist es schlicht so, daß wir ja ständig äußerer Strahlung ausgesetzt sind. Da gibt es eben einerseits die kosmische Strahlung, die uns auch auf dem Boden trifft (aber eben deutlich weniger als in 10-12 Kilometern Flughöhe).
Pro Jahr kommen da ca. 300 μSv zusammen (und auch hier gilt, daß die Dosis Richtung Äquator geringer ist, als weiter zu den Polen hin). Andererseits gibt es die terrestrische Strahlung, deren Quelle natürlich vorkommendes radioaktives Gestein (Uran, Thorium) und v.a. das radioaktive Edelgas Radon ist (zusammen macht das etwa 1500 μSv/a). Schließlich gibt es noch die quasi zivilisatorischen Belastungen (radioaktiver Fallout infolge von Atombombentests oder AKW-Unfällen) oder medizinische Quellen (Röntgenstrahlen).
Die jährliche Strahlendosis addiert sich (auch hier eben Schwankungen aufgrund des Wohnortes etc.) in Deutschland auf etwa 2000-5000 μSv. Das ist also das, was wir immer abkriegen!4
Und jetzt wieder zurück zu unserer Ausgangsfrage: Wie riskant ist eine Flugreise während der Schwangerschaft? Handelt eine schwangere Frau unverantwortlich, wenn sie sich in ein Flugzeug setzt?
Wenn man die Werte betrachtet, so läßt sich eigentlich nur schlußfolgern, daß die kosmische Strahlung sicher kein Grund für einen Verzicht auf eine Flugreise sein kann.5 Denn die Menge an Strahlung, die ich auf dem Flug von Frankfurt nach Rom abkriege, trifft mich auch innerhalb von 24 Stunden, wenn ich (wohnhaft etwa in der relativ stark belasteten Oberpfalz) zuhause bleibe. Die Belastung während des doch etwas längeren Fluges nach Rio den Janeiro entspricht derjenigen, die man während fünf Tagen in der Heimat abkriegt.
Plädoyer für mehr Flugreisen in der Schwangerschaft
Strenggenommen könnte man sogar für Flugreisen in der Schwangerschaft plädieren. Zumindest alle schwangere Frauen, die sich Sorgen wegen des Strahlenrisikos während des Flugs machen, sollten sich mal informieren, wie hoch die ständige Strahlendosis an ihrem Wohnort ist. Wenn der Wert überdurchschnittlich ist (Stichwort: natürliche Uranvorkommen in der Nähe bzw. Radonausdünstungen), dann sollte mindestens der Umzug nach Nordfriesland in Betracht gezogen werden. Dort treffen einen eigentlich fast überall nur unterdurchschnittliche 0,5 μSv/h. Oder man setzt sich in ein Flugzeug und fliegt nach Rom oder sonstwohin. Wenn das Flugziel richtig gewählt ist, dann kompensiert man innerhalb weniger Tage die Strahlendosis während des Fluges und auf die ganze Schwangerschaft gerechnet, minimiert man das strahlenbedingte Risiko auf alle Fälle.
Wir brauchen mehr Gelassenheit in der Risikoabwägung. Und wir müssen einsehen, daß es ohne Risiken nicht geht. Egal, wie wir entscheiden.
Soll das nun ein ernstgemeintes Plädoyer für Flugreisen während der Schwangerschaft sein? Natürlich nicht!
Aber ein Aufruf zu mehr Gelassenheit bzw. ein Plädoyer für genauers Hinsehen und Abwägen. Und die Erinnerung daran, daß wir uns nicht verrückt machen sollten, nur weil wir gehört haben, daß in diesem oder jenem Lebensmittel besonders viel XY enthalten ist. Vielleicht stimmt das ja gar nicht, wie glaubwürdig ist die Quelle unserer Information? Und wenn es doch stimmt? Ist es schlimm, wenn wir XY zu uns nehmen? Und wie lauten die Alternativen? Wissen wir wirklich, welche (negativen) Konsequenzen unser Ausweichverhalten mit sich bringt?
Das ist ist natürlich das Grunddilemma jeder Risikosituation. Dabei gibt es zwei Aspekte: Erstens verfügen wir eigentlich immer über unvollständige Informationen (und aus diesem Nicht-Wissen kommen wir nicht raus). Und zweitens müssen wir diese Information (so unvollständig sie auch sind) einordnen und gegenüber Alternativen abwägen.
Das unlösbare Problem der Eigenerfahrungslosigkeit
Die oben skizzierte Risikoabwägung zeigt dabei noch ganz deutlich ein weiteres typisches Begleitphänomen solcher Situationen: Wir können selbst das potentiell gefährliche Moment nicht (sinnlich) wahrnehmen. Radioaktivität und/oder Strahlung ist und bleibt für uns unsichtbar. Deshalb beunruhigt es uns ja auch, wenn wir lesen, daß während des Flugs die Strahlendosis hoch ist. Daß wir – während wir im Sessel sitzend lesen – gleichzeitig auch von ionisierender Strahlung umgeben und betroffen sind (und keine Ahnung haben, wie hoch die ihrerseits ist), ist uns wohl häufig gar nicht bewußt.
Der Soziologe Ulrich Beck hat in diesem Zusammenhang vor gut 25 Jahren zutreffend folgendes geschrieben und den Begriff „Eigenerfahrungslosigkeit“ geprägt:
„Das Unsichtbare, mehr noch: das, was sich der Wahrnehmung prinzipiell entzieht, das nur theoretisch Verknüpfte, (…) wird im zivilisatorischen Krisenbewußtsein unproblematischer Bestand des persönlichen Denkens, Wahrnehmens, Erlebens. (…) Man steigt nicht mehr nur von Eigenerfahrungen zu Allgemeinurteilen auf, sondern eigenerfahrungsloses Allgemeinwissen wird zum bestimmenden Zentrum der Eigenerfahrung.“
(Ulrich Beck: Risikogesellschaft, S. 96)
Riskantes Dasein: Kein Leben ohne Risiko
So ist das. Wir leben ein riskantes Leben. Ob wir wollen oder nicht. Und wenn wir es genau betrachten, so wird es stets nur noch riskanter. Mit jeder neuen Technologie, jeder neuen Option und Information, die wir haben. Jede zusätzliche Information ist wie ein luhmann’scher Regenschirm:
„Wenn es Regenschirme gibt, kann man nicht mehr risikofrei leben: Die Gefahr, dass man durch Regen nass wird, wird zum Risiko, das man eingeht, wenn man den Regenschirm nicht mitnimmt. Aber wenn man ihn mitnimmt, läuft man das Risiko, ihn irgendwo liegenzulassen.“
(Niklas Luhmann: Die Moral des Risikos und das Risiko der Moral)6
Der Erfinder des Regenschirms ist schuld daran, daß wir mit dem Risiko nass zu werden (bzw. dem Schirmverlust) umgehen und leben müssen. Und ich meine das nicht als Spaß.
Lesetipps zur Thematik:
- Ulrich Beck (1986): Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Suhrkamp.
- Ulrich Beck (2007): Weltrisikogesellschaft: Auf der Suche nach der verlorenen Sicherheit. Suhrkamp.
- Niklas Luhmann (1991): Soziologie des Risikos. Gruyter.
- Ortwin Renn (Hg.) (2007): Risiko: Über den gesellschaftlichen Umgang mit Unsicherheit. oekom-Verlag.
Gute Informationen zu allen Strahlenrisiken (auch diejenigen bei/durch Flugreisen) findet man beim Bundesamt für Strahlenschutz: www. bfs.de
* Bilder // Schwangere Frau: stock.xchng (User: simmbarb) //Blick aus Flugzeugfenster: stock.xchng (User: aprilbell)
- Der Vollständigkeit halber: Es gibt durchaus Gründe während der Schwangerschaft auf eine (anstrengende) Flugreise zu verzichten. Etwa in den letzten 3-4 Wochen vor dem Geburtstermin, um ggf. eine vorzeitige und ungeplante Geburt zu verhindern. Und schwangere Frauen sollten für den Flug explizit Thromboseprophylaxe betreiben. Aber damit hat es sich auch fast… [↩]
- Die Strahlenexposition nimmt bspw. zu, je weiter man vom Äquator entfernt ist. Über Skandinavien ist sie etwa 3x so hoch, wie direkt über dem Äquator. Dazu variiert die Strahlenexposition eben mit den Sonnenzyklen, die innerhalb eines elfjährigen Intervalls schwanken. [↩]
- Angaben jeweils nach den Infos des Bfs – Bundesamt für Strahlenschutz. Website mit weiteren, sehr guten Informationen: www.bfs.de [↩]
- In Europa gibt es übrigens Regionen, in denen man pro Jahr etwa 10.000 μSv abbekommt und im Iran gibt es wohl eine Region, wo die jährliche Belastung mit ionisierender Strahlung bei 200.000 liegt. Das ist natürlich heftig. Quelle: Wikipedia – Strahlenbelastung [↩]
- Dieser Ansicht sind übrigens auch alle seriösen Wissenschaftler und auch das Bundesamt für Strahlenschutz schreibt ausdrücklich, „… die Strahlenbelastung durch Höhenstrahlung ist gering und gesundheitlich nicht relevant.“ [↩]
- vgl. Niklas Luhmann: Die Moral des Risikos und das Risiko der Moral, in: Gotthard Bechmann (Hrsg): Risiko und Gesellschaft. 1993. [↩]
6 Gedanken zu „Das Risiko von Flugreisen in der Schwangerschaft“
Das Risiko von Flugreisen in der Schwangerschaft – oder: Über Ambivalenzen des Wissens und die Eigenerfahrung… http://t.co/z5mUIdfU ^w
RT @Werkstatt: Nochmal Hinweis auf aktuellen Blogtext in der Werkstatt: Wieso Fliegen für Schwangere (k)ein Risiko ist: http://t.co/o73zYnHV
Nachdem ich mich aus aktuellem Anlass umfangreich bei Ärzten und auch Online informiert habe, muss ich sagen: Ich habe das Gefühl, dass niemand so richtig weiß, welche Auswirkungen das Fliegen in der Schwangerschaft hat. Man spricht zwar immer von einem gewissen Risiko, allerdings kann es auch genauso gut sein, dass nichts passiert.
Da meine Frau unbedingt in dem Urlaub möchte und sonst nie anfällig ist, werden wir wohl mit dem Flugzeug in den vorest letzten entspannten Urlaub fliegen.
Vielen Dank für diesen äußerst beruhigenden Denkanstoß!
Ich hatte mich in den letzten Tagen aufgrund einer bevorstehenden Flugreise mit der Thematik webinformatorisch auseinandergesetzt und bisher nur Panikmacher überflogen, die mich in genau diese Becksche Risikobredouille hineingesaugt und so einmal wieder mein hypochondrisches Zwangsbegehren aufgekocht haben.
Jetzt ist mir wieder ganz wohl in meiner Bauchgegend und auch mein Kopf hat aufgehört zu winseln :) Beck und Luhmann sind dahingehend mal wieder sehr aufschlussreich…gefällt mir! Auch wenn ich mich nie sehr weit in die Gedankenwelt dieser beiden Hochgeschätzten vorgewagt habe, verehre ich Ihre aufschlussreiche Wahrheit pretty much :)
Nun, es ist doch wirklich alles ein Risiko.. Dabei muss ich Ihnen zu 100% zustimmen. Schon alleine, wenn man das Haus verlässt, könnte ein Auto bei einer Ampel nicht schnell genug reagieren. Wobei die meisten Unfälle passieren im Haushalt, deshalb würde ich mir über das Aussetzen an Strahlen bei einem Flug keine Gedanken machen.. Das Leben ist nun mal ein Risiko.
Aktuelle AGB der Lufthansa!
Dieser Artikel beschäftigt sich sehr einseitig mit dem Thema Flugreisen in der Schwangerschaft! Weniger strahlen mehr nachdenken!
Unbeschwertes Fliegen in der Schwangerschaft
Für Frauen mit einem unkomplizierten Schwangerschaftsverlauf ist Fliegen unproblematisch. Wir empfehlen dennoch schwangeren Frauen, vorab mit ihrem Gynäkologen über die bevorstehende Flugreise zu sprechen.
Bis zum Ende der 36. Schwangerschaftswoche, bzw. bis vier Wochen vor dem voraussichtlichen Geburtstermin können werdende Mütter mit einem unkomplizierten Schwangerschaftsverlauf ohne gynäkologisches Attest mit Lufthansa fliegen. Ab der 28. Schwangerschaftswoche wird jedoch empfohlen, ein aktuelles Attest mit sich zu führen, in dem Folgendes ausgewiesen ist:Die Bestätigung, dass die Schwangerschaft unkompliziert verläuft
Der erwartete Geburtstermin
Der Gynäkologe sollte ausdrücklich erwähnen, dass die Schwangerschaft die Patientin nicht an Flugreisen hindert
Bei Zwillings- bzw. Mehrlingsschwangerschaften ist das Fliegen bis zum Ende der 28. Schwangerschaftswoche möglich
Wegen des erhöhten Thromboserisikos während der Schwangerschaft empfehlen wir, im Flugzeug Stützstrümpfe zu tragen