Die Sozial- und Geisteswissenschaften unterscheiden sich ja in mehrfacher Hinsicht von den Naturwissenschaften. Dies u.a. durch den Umstand, daß die wissenschaftliche Arbeit in den Humanities durch eine starke Bezogenheit auf vorbildliche Meisterdenker, Denkschulen und Theorien geprägt ist, wohingegen in den Naturwissenschaften eine andere Arbeitslogik und Zyklen dominieren, die für Klassiker kaum Platz lassen. Befinden sich also die Sozialwissenschaften in der Krise, wenn – wie es den Anschein hat – die weit ausstrahlenden und möglicherweise neue Perspektiven eröffnenden Werke fehlen?
In den Sozialwissenschaften gibt es nach wie vor die Orientierung an „großen Erzählungen“: Auf welche (theoretischen) Positionen beziehe ich mich? Mit welcher Methodik rücke ich meinem Untersuchungsgegenstand zu Leibe? Arbeite ich quantitativ oder qualitativ? Und welche Fragestellung (vor welchem Kontext) interessiert mich überhaupt? Das sind einige der Fragen, deren Beantwortung immer auch davon abhängt, an welcher Stelle im Bücherschrank z.B. die Werke von Pierre Bourdieu, Jürgen Habermas, Michel Foucault, Niklas Luhmann, Richard Sennett, Ulrich Beck oder Erving Goffmann einsortiert sind.1
Kurz: in Soziologie, Psychologie oder den Geschichtswissenschaften prägen die Klassiker des jeweiligen Fachs die aktuelle Forschung. Dabei fällt auf, daß solchermaßen wirkmächtige Arbeiten vornehmlich aus den 1960er, 1970er, teilweise noch aus den 1980er Jahren stammen. In den vergangenen zwanzig Jahren scheint die Klassikerproduktion jedoch etwas in die Krise geraten zu sein.
Woran liegt es, daß anscheinend immer weniger fachwissenschaftliche Klassiker „produziert“ werden?
Fehlt uns etwas, wenn uns (wissenschaftliche) Klassiker und Bezugsgrößen fehlen?
Ist das der immer weiter fortschreitenden Ausdifferenzierung der praktischen Forschungsarbeit (sowohl inhaltlich, als auch methodisch) geschuldet? Oder ist schlicht die Zeit der „großen Erzählungen“ vorbei? Oder sind es die veränderten Rezeptions- und Arbeitsbedingungen in der (Sozial-)Wissenschaft, die es unwahrscheinlich oder vielleicht ganz unmöglich machen, daß potentiell prägende, weithin ausstrahlende Arbeiten ihre Wirkung entfalten? Werden also auch heute im Jahr 2012 vergleichbare „Klassiker“ produziert, die allein nicht „identifiziert“ werden? (Verhindert durch die akademische Kurzatmigkeit, atemlos japsend zwischen Antragstellungen, Begutachtungen, Ergebnispräsentationen, universitärer Selbstverwaltung, Kommissionskürlauf, Tagungssmalltalk, Publikationsdruck etc.)
Ebenso möglich ist freilich, daß schlicht die Qualität der Texte (und der darin formulierten Gedanken) nicht mehr hinreicht. Wer will sich schon mit der Behauptung lächerlich machen, seine neueste Arbeit markiere eine Wegmarke (oder gar ein neues Paradigma?) nicht nur für das eigene Fach, sondern auch darüberhinaus?2
Falsche oder angemessene Bescheidenheit?
Oder ist das augenscheinliche Ausbleiben der großen, prägenden Werke, die das Zeug zum Fachklassiker hätten, die Folge der fortschreitenden Konkretisierung und Ausdifferenzierung der wissenschaftlichen Forschungsarbeit? Denn je spezialisierter Forschung agiert (und das ist unbestreitbar auch in den Sozialwissenschaften der Fall), desto überschaubarer ist die Zahl der Personen, die wirklich „mitreden“ können. Und desto unwahrscheinlicher ist es, daß die Ergebnisse solcher Forschung zunächst gelesen und danach überhaupt über den engen Kreis weniger Dutzend Peers hinaus rezipiert werden.3
Zu diesem Thema – dem Ausbleiben neuer „Klassiker“ in den Sozial- und Geisteswissenschaften – hat sich vor einigen Wochen Jürgen Kaube in der FAZ sehr, sehr lesenswerte Gedanken gemacht. Er kommt zum Schluß, daß man
„vom allmählichen Ende einer Epoche sprechen [könnte], in der noch vorstellbar war, dass Denken zu Ruhm führt.“
Die Frage freilich ist: Fehlt uns, fehlt den betroffenen Disziplinen etwas, wenn die erwähnten Klassiker (also mögliche Bezugs- und Orientierungsmarken) fehlen? Ist das Phänomen (wenn die Beobachtung zutrifft) Ursache oder Folge der Zersplitterung der fachwissenschaftlichen Diskurse?
- Kaube, Jürgen (2012): Denken zwischen Mülltrennung und Notaufnahme, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16.3.2012
Bildquelle: stock.xchng; Bücherregal – User: EmZed; Bücherstapel – User: verdrie
- Und wenn die Arbeiten von einem der vorgenannten Klassiker fehlen, dann beeinflußt das die Arbeit natürlich ebenso. [↩]
- Vorhersehbar lächerlich wird so ein Statement, wenn es sich beim fraglichen „Werk“ um die eiligst zusammengeschriebenen Ergebnisse einer drittmittelfinanzierten Studie mit einer Laufzeit von 2-3 Jahren handelt. Und was gibt es sonst noch anderes? [↩]
- Dieser Umstand hat mit der Zersplitterung der fachlichen Diskursräume zu tun. Postmoderne eben, egal ob man den Begriff mag oder nicht. [↩]
12 Gedanken zu „Keine Klassiker mehr: Ende der großen Erzählungen in den Geistes- und Sozialwissenschaften?“
Lieber Marc, der Klassiker, auf den du wartest, ist schon geschrieben, du hast ihn nur noch nicht entdeckt, weil du auf deinen alten Bücherschrank schaust ;-)
Im Ernst: Die Leute, die heute als Klassiker gelten, hatten es möglicherweise einfacher als es heutige Großdenker habe, erkannt zu werden, und vielleicht macht es der Wissenschaftsbetrieb sogar schwerer, solche Großdenker hervorzubringen – aber sie sind weiterhin notwendig, wenn wirklich neue Ideen hervorgebracht werden sollen – und ich glaube daran, dass solche neuen Ideen gebraucht werden. Nach der aktuellen naturwissenschaftlichen Methode ist immer nur Wissenschaft im Normalbetrieb möglich, für den Umbruch braucht es Genies und Geistesgrößen, die ganz ungewöhnlich sind (auch in der Naturwissenschaft). Aber der Normalbetrieb wehrt sich natürlich dagegen ;-)
Schöne Beschreibung der soziologischen Praxis. Dass es keine neueren „Klassiker“ gibt,würde ich allerdings bezweifeln – Latour, Giddens, Castells, Reckwitz und m.M.n. auch Shove z.B. machen jeweils neuere Großperspektiven auf. Mit einem zeitl. Horizont von Anfang der 1990er Jahre bis heute. Oder, nicht mein Ding: Esser. Oder, auch nicht mein Ding: Hardt/Negri. Um nur mal ein paar zu nennen.
@Jörg Friedrich:
Lieber Jörg, da hast Du vermutlich recht – seit einigen Jahren ist in besagtem Regal nichts dazugekommen, deshalb sind die fraglichen Bücher natürlich angestaubt. Und in meinen Ordnern mit den PDFs habe ich nicht nachgesehen. ;-)
Ansonsten: ich glaube auch (mehr ein Bauchgefühl, als daß ich Belege hätte), daß bestimmte Veränderungen des Wissenschaftsbetriebs es heute schwieriger machen, soviel Resonanz mit einem Buch zu erzeugen, soviel Aufsehen (und Hinhören!) zu provozieren, daß man damit überhaupt die kritische Masse an Rezipienten erreicht, die notwendig sind, um einen Klassiker zum Klassiker zu machen (also zu einem Text, der wieder und wieder rezipiert, zitiert, neu durchdacht etc. wird).
Und wenn Du von der „NOrmalwissenschaft“ sprichst: das ist ja auch so einer – Thomas S. Kuhn, Anfang der 1960er Jahre mit seiner „Struktur wissenschaftlicher REvolutionen“. Eben ein Klassiker, auf den Du dich heute (mit 50 Jahren Abstand) noch beziehst.
RT @Werkstatt: Gebloggt: Wo sind die (wissenschaftlichen) Meistererzählungen des 21. Jahrhunderts? –> http://t.co/9xBD9Z7L
@Till:
Auch Dir kann und will ich gar nicht widersprechen. Wobei die von Dir aufgezählten sozialwissenschaftlichen Theoretiker ja eben auch (fast) alle in den 1980er und 1990er Jahren großgeworden sind und publiziert haben. (Allein die Tatsache, daß mir alle Namen, die Du nennst (Ausnahme Shove) auf Anhieb was sagen bzw., daß ich Texte von ihnen gelesen habe, zeigt, daß sie so „neu“ nicht sind….)
Bruno Latour gehört natürlich zum klassischen Bestand (allerdings bereits mit den Laborstudien aus den späten 70ern), genauso zählt für mich persönlich Karin Knorr-Cetina zu einer festen Größe (aber halt auch schon von 1984: Die Fabrikation von Erkenntnis).
Ich habe aber den Eindruck, daß die „jüngeren“ Klassiker (Latour, Hardt/Negri, Giddens etc.) nicht mehr so „breit“ durchschlagen, wie die Autoren eine Generation zuvor. Klar waren das auch andere Zeiten, in denen in den Sozialwissenschaften auch ideologische Kämpfe und Schulen prägender waren, aber Adorno, Habermas, Foucault, Luhmann, Lévi-Strauss (nicht der mit den Jeans, sondern der mit den „TRaurigen Tropen“) haben in einer ganzen Reihe von Disziplinen Anschluß gefunden. Hardt/Negri dagegen dann (so mein Eindruck) halt doch nur bei den Politik- und Globalisierungswissenschaften, insofern nicht ganz vergleichbar.
Keine Klassiker mehr: Ende der großen Erzählungen in den Geistes- und Sozialwissenschaften? | Wissenswerkstatt http://t.co/2QE4Lo6Y
… und eine nachdenkliche Reaktion darauf. http://t.co/ow217OaO
Also 20-30 Jahre sollten schon vergehen bis etwas zum Klassiker geworden ist. Dass ein Werk, ein Gedanke, ein Denksystem wichtig und wegweisend ist, dass es für verschiedene Gebiete Anregungen gibt und das dann auch noch über einen langen Zeitraum, muss sich ja erst zeigen.
Ich habe das Gefühl, dass du ganz subjektiv für dich selbst die neueren Werke vermisst von denen du für dich sagen kannst: Das ist doch mal was grundlegend Neues, das mich weiterbringt. Die Ursachen dafür könnten dann aber auch bei dir selbst liegen: Du bist kein Student mehr (oder noch nicht wieder), der über die Genialität der frisch erlesenen Klassiker staunt, du kennst nun schon einige und merkst, wie vieles schon mal zuvor gesagt wurde. Du ordnest in bestehendes ein, was du zuvor als Ordnungs-Leitfaden genommen hast.
@Jörg:
Klar, bevor man berechtigterweise das Etikett „Klassiker“ anheftet, sollte man durchaus einige Jahre abwarten. Ich habe den Begriff aber evtl. auch etwas leichtfertig ins Spiel gebracht. Daß 15 oder 20 Jahre vergehen sollten, bevor man ein Werk als „Klassiker“ bezeichnet, gestehe ich gerne zu.
Etwas anders verhält es sich, wenn wir „nur“ von der Breite der Rezeption, der Anschluß- und Irritationsfähigkeit eines Konzepts sprechen. Das sollte sich i.d.R. innerhalb von wenigen Jahren zeigen. Zumindest haben die von mir beispielhaft genannten Werke/Autoren eigentlich sofort (also innerhalb von 2-3 Jahren) gehörige Resonanz erzeugt. Die von Till genannten Hardt/Negri wären insofern ein passendes Beispiel; das Buch war kaum publiziert und schon wurde (international!) umfassend diskutiert, die Begriffe werden gedreht und gewendet usw. Insofern kann man (behaupte ich) durchaus nach relativ kurzer Zeitspanne einschätzen, welche Aufmerksamkeit ein Buch, eine Theorie etc. bekommt. Und in den letzten 10-20 Jahren ist sowas (nach meinem Empfinden) eben seltener passiert.
Interessant. Als Philosoph kann ich das natürlich nicht so beurteilen, bei uns ticken die Uhren ja eh etwas langsamer…
Vielleicht traut sich ja auch niemand, was ganz radikales, provozierendes Großes zu schreiben?
RT @Werkstatt: Gebloggt: Wo sind die (wissenschaftlichen) Meistererzählungen des 21. Jahrhunderts? –> http://t.co/9xBD9Z7L
Das hat einen einfachen Grund, die Moderne ist tot, die „grossen Erzählungen“ sind gestorben. An der Massenkultur und der Massenhaften dauernden Revolution der Revolutionäre.
Jetzt kommt etwas ganz anderes, es ist die Ablösung der postmoderne durch die christliche-moderne.
http://recognoscere.wordpress.com/category/christliche-moderne/
Templarii
recognoscere.wordpress.com